Transsib (Sommer 2006) T. 3
Transsib (Sommer 2006) T. 3
Beim Besteigen des Zugs war es noch tiefe Nacht und wir reichlich schlaftrunken, so dass wir dem Zustand der Waggons keine Beachtung schenkten. Wir wankten in unser Abteil, bezahlten bei der Schaffnerin das ausgegebene Bettzeug (in russischen Zügen – außer in denen der gehobenen Preisklassen – ist für die benutzten Laken und Bezüge zuzüglich zum Fahrpreis ein extra Obolus zu entrichten), machten, schon im Halbschlaf, unsere Kojen bezugsfertig und fielen dann auf diese, um endgültig einzuschlummern – bei allem Komfort war der VIP-Saal im Bahnhof von Irkutsk doch nicht so der ideale Ort für den entspannten Erholungsschlaf gewesen, nicht zuletzt wegen der laut plärrenden Fernseher. Zum Schlafen war jetzt genügend Zeit, unsere nächste Station lag etwas über drei Tagesreisen entfernt und sollte auch gleich das Ende der Fahrt sein: Vladivostok .
Beim Aufwachen dann ein eindrucksvolles Bild aus dem Abteilfenster: Obwohl wir schon an die fünf Stunden unterwegs waren, fuhren wir immer noch am Baikal entlang, der, da der Himmel bewölkt war, sich als endlose graue Fläche bis zum Horizont ausdehnte. Wir schienen tatsächlich auf einem Deich an der Küste eines Meere entlang zu fahren. Erst nach weiteren zwei bis drei Stunden ließen wir den See hinter uns und fuhren nun durch eine Landschaft, die aus weitläufigen Tälern bestand, gesäumt von hohen, mit Tannen bewachsenen Bergen. Dabei wäre angesichts der Breite und Länge dieser Täler „von Bergen eingeschlossene Ebenen“ fast schon der bessere Ausdruck. An vielen Stellen müssen vor einigen Jahren gewaltige Waldbrände getobt haben; die Berge waren mit kahlen, grauen Stämmen, fast wie mit Stacheln, übersät, zwischen denen sich aber schon wieder grünes Unterholz ausbreitete. Das Ganze sah reichlich unwirklich aus, etwa so, als habe jemand eine riesige Maerklin-Landschaft gebaut und dabei Berge mit Moos beklebt, in das dann Zahnstocher als „Bäume“ gesteckt worden waren. Diese Landschaft sollte uns nun fast während der nächsten zwei Tage begleiten. Manchmal, wenn wir an einem Fluss oder Flüsschen entlang fuhren, verengte sich das Tal und war dann meist, bis auf einen schmalen Grasstreifen zu beiden Seiten des flachen Gewässerkiesbettes, mit Nadel- oder Mischwald bewachsen.
Gegen Mitte des zweiten Tages weiteten sich die Täler zu wirklichen, am Horizont von Bergketten begrenzten Ebenen aus. Manchmal erhoben sich einige riesige Hügel, beinahe Berge, unversehens empor. Zuweilen war es nur eine einzelne steil aufragende, bewaldete Erhebungen, die aus der Graslandschaft wie ein gigantischer mit Bäumen bewachsener Maulwurfshügel emporwuchsen. Hatte bis hier hin noch Wald das Bild beherrscht, so war es nun eine erstaunliche Mischlandschaft aus ausgedehnten Grasflächen, Büschen und Baumgruppen, die die Ebene bedeckten. So etwa wie eine Kreuzung aus englischem Garten und Serengeti in Heinz-Sielmann-Filmen. Je mehr wir uns Khabarovsk näherten, desto flacher wurde die Landschaft, dafür dehnte sich eine undurchdringliche Strauch- und Kleinbaumvegetation aus, die beim Erreichen des Amur fast das gesamte Blickfeld dominierte, zuweilen nur unterbrochen von einigen Weideflächen.
Der Himmel über diesem Landschaftswechselspiel war zunächst strahlend blau wurde aber, je weiter wir nach Osten kamen, dem immer ähnlicher, was ich vor Jahren in Peking erlebt hatte: diesig-grau bedeckt, die Sonne trotzdem als gleißend weisse Scheibe sichtbar und in einem kalt-farblosen Licht unbarmherzig herunterbrennend. Dreißig bis vierzig Grad, dabei eine kaum auszuhaltende Luftfeuchtigkeit. Zeitweise dämmerten wir bewegungslos in unserem Abteil dahin, die einzige Tätigkeit das Führen der Bierflasche an den Mund und und trotzdem waren wir schweißgebadet.
Vor dieser Naturkulisse spielte sich für die nächsten drei Tage unser Leben ab, beschränkt auf den Zug und, für wiederkehrende Unterbrechungen von fünf bis zwanzig Minuten, das Territorium verschiedener Provinzbahnhofsbahnsteige. Dabei war dieser Zug ein ganz besonderes Exemplar: ein Sonderzug, außerplanmäßig eingesetzt, um der großen Zahl der Reisenden Herr zu werden und, wie sich bei unserem Erwachen und Anbruch des Tageslichts herausstellte, nur aus sogenannten „pricepnye vagony“ (wörtlich: „Anhängewaggons“) bestehend, d.h. aus eigentlich schon ausrangierten, so gut wie schrottreifen Waggons, die nur im Falle übermäßigen Passagieraufkommens als Notlösung einzeln an reguläre Züge angehängt werden. Im Volksmund heißen solche Anhänger auch „chepaevskiye vagony“ (auf Deutsch etwa: „Waggons aus Chepayevs Zeiten“), nach einem kommunistischen Volkshelden des russischen Bürgerkrieges, was Alter, Zustand und Fahrkomfort dieser Transportmittel anschaulich vermittelt.
Hier nun ein ganzer Zug zusammengestellt aus solchen Schrotthaufen. Kein Wunder, dass der in keinem Fahrplan stand. Wäre er offiziell angekündigt worden, hätte jeder Passagier mit Fug und Recht sein Geld zurückfordern können. So lief der Verkauf der Tickets wahrscheinlich ähnlich wie bei uns und hatte den für die Russische Bahn angenehmen Nebeneffekt, dass die Leute froh waren, überhaupt noch weggekommen zu sein und niemand auch nur im Traum an Regressforderungen dachte: Passagier (muss dringend nach Osten, hat es eilig, alle Züge ausverkauft, Passagier in mittlerer Panik): „Ich brauche dringend ein Ticket“. Bahnangestellte (gelangweilt bis gelassen, im besten Fall desinteresiert, im schlimmsten Fall agressiv schelcht gelaunt): „Alles ausverkauft, versuchen Sie’s morgen wieder“. „Aber ich muss noch heute/morgen los, sonst schaffe ich es nicht mehr, pünktlich in… zu sein!“ „Das interessiert mich nicht/ist nicht mein Problem/da hast du aber Pech gehabt/hättest du früher kommen müssen.“ „Lässt sich denn da gar nichts machen?“ „Komm in einer Stunde wieder“. Nach einer Stunde: „komm in einer Stunde wieder“. Dann ‚entdeckt’ die gute Frau (manchmal umsonst, manchmal gegen ‚Gebühr’), dass es da noch einen Extrazug gibt, für den sie auch noch Tickets hat. Der Fahrgast ist euphorisch, doch noch einen Fahrschein ergattert zu haben und merkt erst später, auf was er sich eingelassen hat.
In unserem Falle sah das so aus: Die Federungen waren dermaßen ausgeleiert, dass die Wagen schlingerten wie ein Butterschiff vor Rügen, was die Teetassen/Wassergläser/ Bierflaschen immer wieder über die Abteiltische hoppeln und letztere regelmäßig zusauen ließ. Eines der Hauptnahrungsmittel auf langen Zugreisen, Suppen im Stile der 5-Minuten-Terrine (sonst gab es auf diesem letzten Reiseabschnitt eigentlich nur Brot, Bier und frischen, auf den Bahnhöfen gekauften Räucherfisch), war praktisch nur noch während der Zwischenstops oder mit drastisch heruntergesetztem Wassergehalt konsumierbar weil man sonst Gefahr lief, sich und seine Umgebung flächendeckend mit einer eklen Brühe zu tränken. Um den Weg zum Klo zurückzulegen, war man gezwungen, sich möglichst schnell einen Seemannsgang anzueignen, um nicht einer Flipperkugel gleich durch den Waggon geschleudert zu werden.
Obwohl der Zug restlos ausverkauft und das Wetter brütend heiß war (wobei wir auch noch durch die pralle Sonne fuhren), gab es keine Ventilation. D.h., theoretisch gab es sie schon, nur stand das Zugpersonal wegen eines technischen Defektes vor der Wahl „heißes Wasser oder Ventilator“, was energisch zu Gunsten ersteren entschieden wurde, sonst hätte es nämlich keinen Tee gegeben – und das ist in Russland nun völlig undenkbar. In unserem Waggon hatten wir allerdings bald weder Tee noch Belüftung, da die Wassertanks leck waren und wir von dreieinhalb Tagen Fahrt eineinhalb gänzlich ohne Wasser waren. Abgesehen, dass Waschen also gar nicht drin war, mussten wir die Toiletten der Nebenwaggons aufsuchen, was deren Frequentierung um 50% erhöhte und die Besuche dieser eh schon eindrucksvollen Örtlichkeiten in wahrhaft erschütternde Erlebnisse verwandelte. Als Ventilationsersatz wurden alle Fenster im Gang aufgerissen, was während der Fahrt zwar einige Linderung verschaffte; dafür stürzten sich an den verschiedenen Haltestellen die Mücken in schwarzen Wolken durch die offenen Fenster auf die wehrlosen und erschöpften Reisenden – ein Blutbad. Angesichts dieser Umstände war es auch nicht verwunderlich, dass schon in der zweiten Nacht das Bettzeug einen derartigen Geruch angenommen hatte (Schweiß, Suppe, Bier), der jede Form von Schlaf nur nach einer betäubenden Dosis Schluck aus der Pulle gestattete – die Wirkung war auch eher die einer Vollnarkose denn einer Erquickung von Körper und Geist: man wachte völlig dumm und zerschlagen auf.
Vadik und ich hatten noch Glück gehabt. Am zweiten Morgen, als es noch Wasser gab, gelang es uns, eine „Dusche“ zu organisieren: Die Wassertanks in den Waggons liegen teilweise unter deren Dach und die Toilettenkabinen haben alle eine Abflussöffnung im Boden. Die Toilette, die neben dem Abteil der Waggonschaffnerin liegt, ist nicht nur immer ziemlich sauber, da sie diese selbst benutzt (wichtiger Tip für alle, die mal in Russland mit dem Zug fahren müssen/wollen), hier „duscht“ sie gegebenenfalls auch, indem sie einen Schlauch an der Wagendecke an das Waggonwassersystem anschließt und so die Toilette zur Duschkabine wird. Auf längeren Reisen bringt die „Vermietung“ dieser „Dusche“ dann auch noch ein Zubrot – 50 Rubel pro Duscher. (Der Typ, der im Sommer im Berliner Tagesspiegel die Geschichte schrieb, wie er in der Transsib in eine „Schaffnerdusche“ am Anfang des Zuges gelassen wurde und als Entgeld beim Duschen die dralle, goldbezahnte Schaffnerin zuschauen lassen musste, hat entweder gelogen, oder sich beim Preis bescheißen lassen – oder eine eigene kranke Sexphantasie beschrieben. Obwohl, mir fällt gerade ein, die hübsche Schaffnerin in meinem Waggon nach Omsk hatte sich den einen Abend nach Schichtende mit einem jungen Reisenden in ihr Abteil zurueckgezogen, von wo sie dann am nächsten Morgen recht zerknautscht auftauchten – es ist also vieles möglich.)
War die Natur auf diesem Reiseabschnitt schon beeindruckend, das Wetter und das Reisegefährt abenteuerlich, so sind die Mitreisenden in ihrer Gesamtheit nur als „unvergesslich“ zu bezeichnen. Neben den üblichen Müttern/Großmüttern mit Tochter/Enkelin, die einen Großteil aller russischer Züge zu bevölkern scheinen, waren hauptsächlich drei Gruppen vertreten: Soldaten und Matrosen auf dem Weg in ihre Garnisionen in Peking und Vladivostok (ja, die Russen haben eine kleine Garnision in Peking, hab ich auf dieser Fahrt gelernt), Aufseher der Straflager in Ostsibirien (z.B. Chita, wo Khordokovskij sitzt) und meist recht verwegene Kerle, die davon leben, japanische Gebrauchtwagen in Vladivostok oder Khabarovsk zu kaufen und diese dann nach Krasnoyarsk, Novosibirsk oder Omsk zu überführen. Ist ein relativ einträgliches aber reichlich gefährliches Geschäft: Die Wagen gehören, solange sie nicht offiziell am Wohnort des Käufers auf ihn registriert worden sind, dem, der die Fahrzeugpapiere hat, egal, wie er in ihren Besitz gekommen ist (ein Kaufvertrag ist natürlich schon ein Trumpf in dieser Angelegenheit). Dieses Detail ist von entscheidender Bedeutung. Abgesehen davon, dass es keine durchgehende Straße quer durch Sibirien gibt, die „Transporteure“ also teilweise hunderte Kilometer über unbewohnte, weglose Grasebenen fahren müssen, hat sich außerdem eine Vielzahl von Banden darauf spezialisiert, entlang der Wegstrecke überführt werdenden Autos (erkennbar an den Nummernschildern) aufzulauern und sie zu kapern oder ihnen teilweise über bis zu tausend Kilometer zu folgen und sobald der Fahrer vor Erschöpfung einschläft, diesen zu überfallen, (im besten Fall) zusammenzuschlagen, den Kaufvertrag zu vernichten und den Wagen samt der Papiere zu rauben. Der Fahrer bleibt mehr oder minder versehrt zurück, schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert.
Wem die Mitmenschen nicht zum Verhängnis werden, den kann noch die Natur erwischen: ein Motorschaden im Winter bei –30 Grad bedeutet selbst auf relativ befahrenen Straßen fast den sicheren Tod, da aus Angst vor Überfällen so gut wie niemand anhält um zu helfen. Wilder Osten! Die Jungs in diesem Geschäft sind daher alles ziemlich derbe Gestalten, fast durchweg mit kriminellem und/oder militärischem Hintergrund und entsprechendem Benehmen – Cowboys des Ostens.
Das war also das Publikum in unserem Zug, das in seiner Gesamtheit auch noch kräftig geistigen Getränken jeder Art zusprach: kein Narenschiff, ein Irrenzug,. Die Geschehnisse der nächsten Tage sollten halten, was die Besetzungsliste versprach, wobei es in unserem Waggon noch ging, doch in den beiden uns einrahmenden Großraumwagen war „Tanz der Teufel“, besonders im Waggon hinter uns, der passenderweise auch noch die Nummer „13“ hatte (kein Scherz!):
In der ersten Nacht wurde ein sturzbetrunkener Offizier irgendwo an einer Station in der Pampa zwangsausgesetzt weil er im Suff eine Wagentürscheibe eingeschlagen hatte; ein anderer Passagier fiel in der zweiten Nacht völlig blau aus seiner Koje unter dem Wagendach, schlug auf die Kante der Schlafstatt unter ihm und trug in der Nierengegend ein Hämatom von der Größe zweier LPs davon (einen Tag später bekam er Fieber und Schüttelfrost und sein Kumpel verließ mit ihm den Zug Richtung Erste Hilfe); einem weiteren Fahrgast hobelte eine aufschwingende Stahltür zwischen zwei Waggons sauber den gesamten Nagel des einen Großen Zehs weg; der nächste wurde auf einem Zwischenhalt mit dem Notarztwagen abgeholt, nachdem er sich randvoll mit einem anderen gehauen, seinen Gegner in einem entscheidenden Moment verfehlt, dafür aber eine Scheibe zerschlagen und sich dabei einen Finger abgehackt hatte.
Neben diesem Alltagsirrsinn gab es noch Augenblicke besonderer Freude. Während Vadik und ich die gesamte Strecke von Irkutsk bis Vladivostok zurücklegten, wechselten die Mitreisenden in unserem Abteil fast im Tagestakt. Eines Nachts wurde ich von einer temperamentvollen Diskussion zwischen unserer Schaffnerin und einem Offizier an unserer Abteiltür geweckt, wunderte mich etwas, schlief aber wieder ein. Am nächsten Morgen lag in der Koje, die eigentlich für den Offizier reserviert gewesen war, ein kleines Männchen in Zivil. Auf die Frage, was denn aus dem Soldaten geworden sei, der ursprünglich des nachts bei uns hätte unterkommen sollen, erzählte das Männchen: Der Offizier hatte einen Arrestanten von einer Garnision in eine andere zu überführen, Transportmittel Zug. Nun hatte die russische Armeebürokratie ihren unvergleichlichen Auftritt. Ein Offizier hat nach Vorschrift und aus Prinzip in einem Abteil zu reisen, ein Arrestant dafür so billig und unbequem wie möglich, d.h. im Großraumwagen. Entsprechend wurden die Fahrkarten von der Standortverwaltung gelöst, mit dem Erfolg, dass der Sträfling und sein Bewacher in unterschiedlichen Waggons hätten reisen müssen, was bei der Aufgabe des letzteren nicht so richtig hilfreich gewesen wäre. Als dieser Sachverhalt allen Beteiligten beim Besteigen des Zuges schließlich klar wurde, ging das Grübeln und hinter-dem-Ohr-Gekratze los. Was tun? Ein Offizier hat in einem Abteil zu reisen, ein Arrestant im Großraumwagen. Dies behindert nun aber entscheidend die Beaufsichtigung des Arrestanten. Den Arrestanten ins Abteil umzulegen ging nicht, da a) gegen die Vorschrift, b) wen hätte man aus dem Abteil auf den Arrestantenplatz verbannen sollen, c) wer zahlt die Preisdifferenz zwischen Abteil und Großraumwagen? Andererseits wiederum, ein Offizier nicht im Abteil – undenkbar. Ein glückliches Land, das keine anderen Probleme hat! Schlussendlich dämmerte dem Bewacher, dass seine Aufgabe und seine mit ihrer erfolgreichen Bewältigung direkt verknüpfte berufliche Zukunft wohl wichtiger waren als sein Status, man weckte einen günstig positionierten Reisenden, drückte ihm die Abteilplatzkarte in die Hand und schickte ihn zu uns, derweil sich der Offizier neben seinem Schützling einrichtete.
Eine zeitweise Mitreisende in unserem Abteil, der jüngere Teil der Standartkombination Mutter und Tochter, geht mir nicht mehr aus dem Kopf, obwohl sich mit ihr keine außerordentlichen Erlebnisse verbinden: ein junges Mädchen, recht stabil und drall, rundliches Gesicht, strahlend blaue Augen mit leichtem, fast unmerklichem asiatischen Einschlag, lange blonde Haare. Sie saß grundsätzlich kerzengerade und hatte eine Mimik und Körpersprache wie aus alten sowjetischen Filmen. Wenn sie mir gegenüber saß, nachdenklich aus dem Zugfenster blickte und dabei gleichsam von innen zu leuchten schien, war es mir, als sähe ich das leibhaftige Vorbild für alle Junge-Bäuerinnen-Darstellungen der sowjetischen Propanganda auf Plakat und Zelluloid. Dabei war sie unkompliziert und eine überaus kurzweilige Gesprächspartnerin mit einem starken, studiumsbedingten Interesse an deutscher und französischer Literatur. Nur hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, mit einem Charakter vergangener Zeiten zu sprechen, den es, wie auch immer, in unsere jetzige Zeit verschlagen hatte. So als sei eine alte Fotographie zum Leben erweckt worden.
Auf einer meiner „Wanderungen“ durch den Zug lernte ich drei Männer kennen, die auf dem Weg nach Khabarovsk waren, um dort Autos zum Überführen nach Novosibirsk zu erstehen. Wir tauschten einige Allgemeinfloskeln, worauf sie mich zu sich in den Wagen zum Biertrinken einluden – ein Deutscher, der seinen Urlaub auf der Transsib verbringt, ist mal was Neues. Während wir also dasitzen, nach einigen Flaschen schon recht beschwingt, bringt der eine das Gespräch darauf, dass er Jude sei und fast seine gesamt Familie durch die Deutschen verloren habe. Die anderen am Tisch werden ungehalten: „Lass doch den Jungen in Ruhe, was kann der dafür?! Der ist in Ordnung, sonst würde er nicht in Russland leben, wie ein Russe reisen und so gut Russisch sprechen“. Als Reaktion darauf und auf meine sichtliche Hilflosigkeit in dieser Situation beruhigt er mich: „Versteh mich nicht falsch, das ist jetzt nicht gegen dich gerichtet. Es war eher so zur Information – und außerdem wollte ich damit sagen, wie gut es ist, dass wir mit dir jetzt hier beim Bier zusammensitzen und jene finsteren Zeiten zum Glück vorbei sind.“ Ich murmele etwas zustimmend-hilfloses, gefolgt von einigen Infos in Richtung Antifa, neue Generation und des Anteils Idioten, den es in Deutschland immer noch gebe, aber auch über das Erstaunen, dass mich immer wieder in Russland überkommt, dass gerade in dem Land, das im Krieg mit am meisten unter den Deutschen gelitten hat, mir als Deutschem kaum mit Vorurteilen sondern im Gegenteil, mit Sympathie begegnet wird. Darauf eine Antwort, die ich oft gehört habe „Wir haben in der Sowjetunion noch viel mehr Menschen umgebracht – und alles unsere eigenen. Wie sollen wir da nachtragend sein, zumal ihr ja nun eine jüngere Generation seid, die damit nichts mehr zu tun hat“. Danach der Satz, der mich schlagartig nüchtern werden lässt: „Schau mal, da drüben sitzt meine Oma, die hat als Jüdin von 42-45 in deutschen KZs gesessen.“
Während ich noch vollauf damit beschäftigt bin, nach außen hin gelassen zu bleiben und innerlich überlege, was hier wohl die beste Reaktion sei, winkt sie mich zu sich: „Komm her mein Söhnchen, setz dich zu uns, iss ’was und trink mit uns“. Nachdem ich beklommen auf der Pritsche neben ihr Platz genommen hatte, sah sie mich kurz an, lächelte und fuhr fort: „Ich habe trotz allem nie Groll oder Hass gegen die Deutschem empfunden. Die russischen und ukrainischen Polizeikräfte waren viel schlimmer, wie übrigends auch die Lagerkapos, die ja eigentlich selber Haeftlinge, also ,unsere’ waren“. Auf meinen Einwandt, es seien doch aber die Deutschen gewesen, die das alles verursacht und organisiert und somit zu verantworten gehabt hätten, antwortete sie, dass schließlich niemand vorher gewusst habe, „wozu Hitler das Volk führen und anstiften“ werde. „Naja, man hätte ja immerhin ,Mein Kampf’ lesen können, und außerdem hat er ja auch dauernd mehr oder minder offen erzählt was er vorhat.“ „Und wenn schon, Politiker erzählen viel. Wer glaubt denen schon wirklich?! Und: was soll ich als Sowjetbürger mich beschweren? In diesem Land haben sie unter Stalin viel mehr Leute umgebracht – und alles die ,Eigenen’, worüber übrigends heute keiner mehr spricht. Die Deutschen haben für ihre Schuld bezahlt.“ Danach wechselte sie energisch das Thema, berichtete von Anlass und Ziel ihrer Bahnfahrt und fragte mich nach meinen Reiseeindrücken. Als das Bier ausging verabschiedete ich mich und ging reichlich verstört in mein Abteil zurück.
Dieses Gespräch hatte einen Sturm von Gedanken- und Erinnerungssplittern ausgelöst, die im Stakkato wie in einem drogenschwangeren Videoclip vor meinem inneren Auge aufblitzten. Im Abteil angekommen, saß ich noch lange grübelnd da, bis mir klar wurde, dass mir durch dieses Erlebnis, nach vielen anderen Begebenheiten während meines Lebens in Russland, endgültig das moralisch-interprätatorische Koordinatensystem zertrümmert worden war, welches mir als politisch-ethische Richtschnur auf diesem heilklen Terrain gedient hatte:
Da waren die Berichte der Großmutter eines russischen Kollegen, die im Krieg bei Leningrad gewohnt hatte und immer erzählte, die Landser hätten sich fast immer anständig benommen, schlimm und sadistisch seien die mit den Deutschen verbündeten Finnen gewesen; ein Eishockeykumpel berichtete von den Erzählungen seiner Großeltern, wonach sich die deutschen Soldaten (nicht die Armee als ganzes, sondern die einzelnen Soldaten) gößtenteils als relativ korrekt und kinderfreundlich erwiesen hätten. Erst der sowjetische Partisanenkrieg habe das geändert (weshalb ihn die Alten als Verbrechen bezeichneten); Berichte aus dem Baltikum, wonach die deutschen Okkupanten bei der einheimischen Bevölkerung Nahrung gekauft oder erhandelt hätten, während später die „befreienden“ Sowjettruppen das Land mit Raub und Plünderungen überzogen; ein Buch mit russischen Kriegserinnerungen, in denen schlimme Greuel aber auch tiefe Anständigkeit und Hilflosigkeit der einzelnen Deutschen beschrieben werden; die Bemerkung einer Standesbeamtin in Moskau: „Die Deutschen haben ihre Schuld am Krieg schon lange abbezahlt!“. Meine Zimmervermieter, bei denen ich in Moskau zweimal für mehrere Monate wohnte – ein älteres jüdisches Ehepaar, sie Überlebende der Leningrader Belagerung, die in mir eine neue deutsche Generation sahen, die mit dem Krieg und der Vergangenheit nichts mehr zu tun hat und die ihrer Meinung nach damit auch nicht mehr ständig konfrontiert werden sollte um ihr eine Chance zu geben, ihr eigenes Leben zu leben – auch wenn sie mich, wie sie mir später erzählten, zunächst genau beobachtet hatten, ob ich irgendwelche „unguten Tendenzen“ zeigen würde…
Dazu die tagebuchhaften Reflexionen eines an der Ostfront gefallenen Landsers, die kürzlich entdeckt und veröffentlicht wurden: Der Mann selber ist sich des Unrechts des Krieges durchaus bewusst, versucht jedoch, für sich und seine Generation durch eine todesbejahende (oft unsägliche) „Stahlgewitterphilosophie“ eine schicksalhafte Begründung für das Geschehen zu konstruieren. Er verspürt keinen Hass gegeüber den Russen, an einer Stelle bekundet er sogar Sympathie für die Rotarmisten, die ja das gleiche Schicksal erlitten wie er, nur auf der anderen Seite; er zeigt das Überlegenheitsgefühl des arrivierten Bildungsbürgers aus einer durchorganisierten Gesellschaft, der in das Chaos und Elend des real noch mittelalterlichen russischen Dorfes gerät, wobei das aber selbst beim bösesten Willen nicht Rassismus genannt werden kann. Und er beschreibt anschaulich, wenn auch nur teilweise bewußt, wie die Dauer des Krieges, die damit einhergehende Verrohung und der alles beherrschende Überlebenswille jedes moralische Handeln verdrängen. Er schildert, wie sie auf dem Vormarsch Häuser der sie freundlich aufnehmenden Bevölkerung plündern, da die Versorgung nicht funktioniert, wie Kälte, Angst und Hunger ihn und seine Kameraden dem Leid der Bevölkerung gegenüber abstumpfen lassen, obwohl zumindest er das Unrecht erkennt – doch der fast panisch aufwallende Überlebensreflex ist stärker. Erst in den ruhigen Stunden der Niederschrift findet er wieder zu sich und seinem Wertensystem. Je länger der Krieg dauert, je mehr die Deutschen in die Defensive geraten, desto mehr decken sich seine Schilderungen der Wehrmacht mit dem, was von russischer Seite oft zu lesen ist: die sich zurückziehenden Truppen ein Haufen dauerdichter Fatalisten, deren Angst, Wut und Hoffnungslosigkeit sich in Alkohol- und Gewaltexzessen entladen. Nur noch die Sorge um das Schicksal der „Heimat“, der Terror der Standgerichte und der Wunsch, irgendwie zu überleben, halten die Disziplin, oft nur während des Kampfes selber, aufrecht. Hinter der Front herrscht zunehmend entfesseltes Chaos.
Dieser Bericht und das oben erwähnte russische Buch zum gleichen Thema, das ich etwas früher gelesen hatte, ergänzen sich und zeichnen ein weitaus komplizierteres Bild vom Geschehen, als es in Deutschland gemeinhin akzeptiert ist: weder gibt es die Trennung von „böser“ SS und „anständiger“ Wehrmacht, noch waren die Landser per se Verbrecher.
Doch nicht nur der Text selbst ist verstörend: Das Vorwort des deutschen Herausgebers ist, trotz aller Bemühungen um eine ausgewogene Einordnung des Textes und seines Inhaltes, der Reflexionsfähigkeit und des Streben des Tagebuchschreibers um Aufrichtigkeit, gleichwohl geprägt von dem bei uns in nicht-revisionistischen Kreisen unantastbaren Dogma, dass jedes Mitgefühl mit den Leiden eines deutschen Soldaten, also des Buchautors, zumindest bedenklich sei, da diese nur vor dem Hintergrund von Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Holocaust gesehen werden dürften. In diesem Zusammenhang überhaupt Emphatie mit dem „Täter“ als verständlich anzusehen und die bei uns übliche Einordnung einer solchen Gefühlsregung als revisionistisch-verharmlosend, wenn nicht gar als sympathisierende Kumpanei, wenigstens jedoch als zu eindimensional und dem Thema nicht angemessen darzustellen, nötigt dem Herausgeber ein Maß an Courage ab, über das er selbst erschrocken ist, wie man dem Text anmerkt: Er unterstreicht ständig, dass die Wehrmacht eine verbrecherische Organisation in einem verbrecherischen Krieg war, eine Binsenweisheit, die niemand ernsthaft bestreiten kann. Diese Einleitung veranschaulicht, wie die bei uns herrschende Meinung nach Jahrzehnten des Kampfes mit den ständigen Versuchen der Geschichtsklitterung rechter Geschichtsumdeuter in ihrer verhärteten Rigorosität dazu führt, dass die Wahrnehmung eines Menschen als Einzelperson im Interesse einer polit-korrekten Interprätationsorthodoxie geopfert und versucht wird, zu ignorieren oder dialektisch zu desavouieren, was nicht sein darf – zumindest partielles Mitgefühl mit denen, die zugleich Täter und Opfer waren – jene Milionen, die ohne Nazis oder Rassisten zu sein als Kanonenfutter an die Front geschickt wurden. Der Einzelne wird nicht mehr als Individuum sondern nur noch als Teil einer Gruppe wahrgenommen, dessen persönliches Denken und Fühlen nicht mehr zählt – ein letzter Sieg der Nazis, die die menschliche Persönlichkeit eben dadurch zu vernichten trachteten, dass sie den Einzelnen auf die Teilmenge einer Gruppe reduzierten.
Im Gegensatz dazu die Rezension des Buches eines englischsprachigen Autors in der Moscow Times. Hier wurde unterstrichen, wie stark der Verfasser des Buches unter dem Geschehen litt, dass man nicht alle Deutschen lediglich als graue Masse sehen dürfe, dass einer der interessantesten Momente des Buches eben genau jener sei, in dem der Autor sich bewusst wird, wie er an der Front seinem eigentlichen Wertekatalog entgegengesetzt handelt und dabei „sich selber seltsam fremd“ wird (so übrigends auch der Buchtitel). Der Herausgeber der deutschen Ausgabe schreibt ähnliches, aber der englischsprachige Rezensent (ich weiß nicht mehr ob es ein Ami oder Engländer war) bezeichnet es ohne jede Einschränkung und Absicherung als Verdienst des Buches, dass es den Menschen in deutscher Uniform sichtbar mache und wie die Dynamik des Krieges dazu führte, dass selbst den Nazis distanziert gegenüberstehende mitmachten und so die Kriegs- und Mordmaschine des Dritten Reiches ihre verheerende Wirkung entfalten ließen.
Wenn ich nun das Erlebnis im Zug, die anderen Begebenheiten und das Buch mit seinen Bewertungen betrachte, verliere ich die moralische Orientierung: Die Opfer verzeihen, sehen die Sache als vergangen an (nicht als vergessen!), die ehemaligen Gegner erkennen neben dem Verbrechen und der Täterschaft auch den Menschen mit seinen inneren Konflikten, während wir in Deutschland entweder in Revisions oder Verurteilungsreflexe verfallen, aufs neue das Menschliche auf dem Altar einer „richtigen“ Sichtweise opfern und dabei fast genüsslich-selbstquälerisch alles in vereinfachendem Schwarz-Weiss sehen. Wie die Erzählungen und Kommentare der Russen, die Sichtweise meiner Vermieter, das Buch des Landsers und besonders der Ausspruch der ehemaligen KZ-Insassin zeigen, sind die Dinge viel komplexer und verworrener, als die selbstgerechten beiden Hauptsichtweisen in Deutschland es zulassen.
Auch die unselige „Schluss-Strich-Frage“ erscheint nach all dem in einem anderen Licht. Wenn sogar Opfer sagen, das zwischen Deutschen und Nazis zu unterscheiden sei, dass die alten Zeiten vorbei seien, dass die Schuld vergeben oder abgetragen sei (der hier oft gemachte relativierende Hinweis auf die Verbrechen der Stalinzeit kann dabei für uns Deutsche kein Argument sein), dass jetzt eine neue Generation Deutscher lebe, denen unvoreingenommen begegnet werden müsse, da sie ja nun wirklich nicht an den Verbrechen beteiligt gewesen seien, dass der ständig wiederholte Vorwurf an die Jungen, sie trügen die Schuld der Alten weiter und die, gerade in Westeuropa und Amerika bis heute sehr beliebte, Gleichsetzung von Deutschen und Nazis nur kontraproduktiv sei, da sie ein gestörtes nationales Sebstverständnis und daraus folgend eine unheilvolle Trotzreaktion verursachten, dann stellt sich mir die Frage, ob wir nicht tatsächlich aus deutscher Gründlichkeit in unserer Aufarbeitung der Vergangenheit zuviel des Guten tun, besonders wenn ich mir einige Gutmenschen und Gestalten wie Lea Rosh ansehe.
Russland ist das Land, das nach Polen am meisten unter dem nazistischen Deutschland gelitten hat, trotzdem ist es das einzige Land (außer China), in dem ich nicht dafür angemacht wurde, Deutscher zu sein. Dabei sind der zweite Weltkrieg und die deutschen Verbrechen bis heute lebendiger Teil des kollektiven Bewusstseins, der nationalen Kultur und Identität: Neben allgegenwärtigen Gedenkritualen, unzähligen Filmen, Denkmälern in jeder Stadt, die an deutsche/nazistische Verbrechen oder sowjetische Heldentaten erinnern, gibt es aber auch massenhaft Witze, die aus pc-Gründen bei uns nicht erzählbar sind und Redewendungen, die den Krieg zum Thema haben (ein klassisches Beispiel: „tam vojna i nemcy“ – wörtlich: „Da sind Krieg und die Deutschen“, hat aber die Bedeutung von „Da herrschen Chaos, Angst und Schrecken“ oder „Da ist es fürchterlich“). Mit alldem ist man ständig konfrontiert, doch es wird kein Vorwurf spürbar. Das Geschehen wird als vergangen, abgeschlossen betrachtet, auch wenn nichts vergessen ist und dumme Sprüche schnell zu heftigen Reaktionen führen können. Dabei äußern Russen immer wieder Unversätnndnis über den, wie sie es nennen, „deutschen Minderwertigkeitskomplex“. Ich denke daran, wie Ausländer in Deutschland, die mit Deutschen in Konflikt geraten, schnell die Allzweckwaffe „Nazi/Rassist“ im Munde führen, was fast unweigerlich zu einem schuldbewussten Zurückzucken vieler Deutscher führt; wie Jungendliche oft „das ewige Nazi-Schuld-Gedöns nicht mehr hören können“, sich so wichtigem und notwendigem Wissen verschließen und deshalb wieder bei Unwissenheit und bedauerlichem Gedankengut landen. Gleichzeitig habe ich die Oma im Zug und meine Vermieter im Ohr und in mir steigt der Gedanke auf, dass wir wirklich dringend einen „Schlussstrich“ ziehen und neue Wege beschreiten müssen, die ein Vergessen verhindern aber ein sich-schuldig-fühlen vermeiden – Antifaschismus nicht aus und mit schlechtem Gewissen, sondern aus Abscheu gegenüber der faschistischen Idee und gegenüber dem, was der Faschismus in Europa, einschließlich Deutschland, angerichtet hat und im Bewusstsein, dass es vor Ausschwitz Traditionen in Deutschland gab, an die dabei angeknüpft werden kann: Kants kathegorischer Imperativ, Lessings Ringparabel, Preussen als erstes Land in Europa, das seinen Bürgern Religionsfreiheit gewährte und die Folter abschaffte. Das „Dritte Reich“ nicht als Ziel- und Endpunkt deutscher Geschichte, sondern als Mahnung, sich an die älteren, aufklärerischen Traditionen unserer Geistesgeschichte zu halten und an durchaus beachtliche Nachkriegserrungenschaften wie eine weltweit einzigartige, kritische gesellschaftliche Diskussion über die Legitimität von Nationalismus und Patriotismus. Etwa in dem Sinne, wie der als Jude verfolgte Klemperer in seinen Tagebüchern schreibt: „Deutsch und liberal for ever!“ Ist so etwas machbar? Seit jenem Gespräch im Zug irre ich gleichsam planlos umher, nicht wissend, wie diesem Thema angemessen beizukommen ist.
Ich habe lange überlegt, ob und wie ich dieses Erlebnis und die daraus resultierenden Gedanken beschreiben soll, weil einerseits der daurch ausgelöste Denk-, oder eher Grübelprozess bis heute andauert – es ist das alles zugegebenermaßen noch recht unfertig und bruchstückhaft – , andererseits aber mich der Gefahr aussetzt, missverstanden und in die falsche Ecke gestellt zu werden. Gleichwohl ist auch das Leben in Russland und gehört deshalb hierher.
Die Reise dauerte an, die Mitreisenden wechselten im Tagestakt. Inzwischen reiste mit uns ein Junge, 13 Jahre alt. Die Schaffnerin hatte ihn bei uns mit folgenden, an die Tante des Knaben gerichteten Worten einquartiert: „ Das sind anständige Männer, die randalieren nicht und stiften ihn nicht zum Saufen an“. Und das, nur weil wir im Gegensatz zu vielen anderen nicht lallend durch den Waggon krabbelten. Wie doch der Schein trügen kann. Wir haben ihn unter unsere Fittiche genommen, mit der wunderbaren Welt des Punk und Heavy Metal vertraut gemacht (er selber hörte nur Rap – es ist ein Elend mit den jungen Leuten), ihm Biertrinken beigebracht (ohne Exzesse natürlich), ihm das Rauchen verboten, ihn Sozialverhalten gelehrt (der schien als Einzelkind von Mutter und Tantchen völlig verzogen – fragen, „Danke/Bitte“ und seinen Dreck wegräumen kannte der nicht), wobei besonders Vadiks Schilderungen aus der Armeezeit, wie die „Kameraden“ ein Verhalten wie das seine goutieren würden, erfreuliche Ergebnisse erziehlten. Kurz, Vadik und ich bemühten uns, dem von Schaffnerin und Tante erteiltem Aufsichts- und Bildungsauftrag gerecht zu werden – wenn auch in unserer Interprätation.
Im Nebenabteil reiste ein recht ansehnliches Mädel, etwas älter als unser Zögling, in Körperbau und Gehabe deutlich frühreif, die merklich ein moralisch zweifelhaftes Interesse an unserem Schutzbefohlenem zeigte. Als Mentoren meinten wir nun, dem Jungen Gutes zu tun, indem wir ihn auf diesen Umstand und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten aufmerksam machten. Mit seinen jungen Jahren entsprechendem Unternehmungsgeist stürzte er sich in das Abenteuer, überwand erfolgreich die (in diesem Falle absichtlich niedrig gehängte) Hürde des näheren Bekanntmachens, um alsbald in eine Situation zu geraten, in der sich offenbarte, dass er weder physisch noch psychisch jenen Grad der Reife erreicht hatte, von dem Lichtenberg schreibt: „…die Leidenschaft…die wir gewöhnlich nicht lange vorher, ehe wir uns das erste Mal rasieren lassen, schon verspürt haben. (…) Ein seltsamer Zustand, durch den wir Männer alle müssen…“. Angesichts der ihm willig dargebotenen Weiblichkeit demonstrierte er ein Verhalten, wie Sid Vicious oder Bon Scott es wohl beim Anblick einer Flasche alkoholfreien Bieres gezeigt hätten: er hatte schlichtweg keinen Schimmer, was er damit machen sollte. Offensichtlich hatte dann die junge Dame versucht, die Sache in die Hand zu nehmen, jedenfalls saß er ploözlich wie festgeklebt mit ängstlichen Gesicht in unserem Abteil und legte ein erstaunlich eifriges und – wie uns schien – nicht ganz aufrichtiges Interesse für Punkmusik an den Tag, während die schwarzhaarige Versuchung vor unserer Abteiltür patrouliierte: zunächst sehnsüchtig schmachtend, dann zuhnemend missmutig, bis sie schließlich ganz verschwand. Spätestens in zwei Jahren wird ihn sein Verhalten reuhen.
Am vorletzten Abend erschien ein etwas fülliger, vergnügter Schnurrbart in unserem Abteil, der, nachdem er sich auf seiner Pritsche eingerichtet hatte, vier Liter eiskalten Bieres aus seinem Gepäck zog und zum allgemeinen Verzehr anbot: ein Held für uns, die wir seit fast zwei Tagen bei ca. 40 Grad Hitze in den Waggons nur lauwarme, bittere Plörre zweifelhafter Zusammensetzung bei den Schaffnern und an verschiedenen Bahnhofskiosken hatten organisieren können. Er war Eisenbahner und erzählte eine Menge Unfug, war aber ganz unterhaltsam. Außerdem hatte uns seine Biergabe fast schmeichlerisch-tolerant gestimmt. Gut war aber folgender, für Russland recht typischer Witz: Sitzen zwei Sträflinge im Lager und plaudern. Dabei bohrt der eine in der Nase. Sagt der andere: „Mensch lass das! Das ist ein schlechtes Omen, das heißt, dass deine Frau sich von anderen in den Arsch f….. lässt während Du hier sitzt.“ Darauf der erste: „Soll sie doch, solange sie bloss nicht ihrerseits in der Nase bohrt“.
Mitten in der Nacht schreckte der Typ dann plötzlich auf, ging kurz aufs Klo und begann sofort nach seiner Rückkehr ohne ersichtlichen Grund mit angstvoll aufgerissenen Augen immer wieder zu stammeln: „Schwuchteln, hier sind überall Schwuchteln! Alles verdammte Schwuchteln!“. Wie versuchten ihn so gut als möglich zu beruhigen und fragten, wie er denn darauf käme. Als Antwort kam: „Auf dem Gang, auf der Raucherplattform – alles Schwuchteln!“ Ein Blick aus der Abteiltuer: Da standen nur die kräftigen, teilweise mit Sträflingstätowierungen geschmückten Autoüberführer aus dem Nebenabteil, einige wegen der Hitze im Waggon mit freiem Oberkörper. Zugegeben, vom Anblick her kein vertrauenerweckender Sympathenclub, obwohl die in Wirklichkeit sehr okay waren, aber eindeutig, wie es in Russland heißt, „traditioneller sexueller Orientierung“. Schließlich beruhigte er sich einigermaßen und schlief wieder ein. Wir waren dann aber doch froh, als er am nächsten Morgen seinen Zielort erreichte und hastig das Abteil verließ. Während ich das hier niederschreibe, kommt mir allerdings der Gedanke, dass er vielleicht mal gesessen hatte, was gerade im ländlichen Rusland viele hinter sich haben, und seine Zellengenossen damals meinten, seine Frau bohre in der Nase – in russischen Gefängnissen passiert da viel Schlimmes. Die Knasttätowierungen und die entsprechenden Visagen der Mitreisenden scheinen bei dem im Halbschlaf befindlichen einen traumatischen Erinnerungsschock ausgelöst zu haben. Vielleicht war er aber auch nur ein Trottel. Wie auch immer, ein sonderbarer Auftritt.
Appropos Knasttätowierungen: Zwei Reisende im Zug, beide auf dem Weg nach Vladivostok um Gebrauchtwagen zu erstehen, jeder auf seine Art eine reichlich einducksvolle Gestalt, waren offensichtlich sogenannte „Autoritäten“. So bezeichnen die Russen Männer, die Jahre in Straflagern verbracht haben, oft den größten Teil ihres Lebens, und sich aufgrund von Knasterfahrung, Schlauheit, Rücksichtslosigkeit und Beziehungen in kriminellen Kreisen größten Respekts erfreuen – „Autoritäten“ eben. Manche haben diese Position nur innerhalb der Lager inne, d.h. in Freiheit machen sie irgendwelche mehr oder minder legalen Durchschnittsjobs, leben recht bescheiden und haben im kriminellen Millieu keine herausragende Position, auch wenn sie allgemein respektiert und manchmal bei Streitigkeiten als Schiedsrichter hinzugezogen werden. Dafür entscheidet ihr Wort in den Lagern über Leben und Tod. Andere „Autoritäten“ sind auch jenseits des Stacheldrahtes Führer krimineller Organisationen. Bis in die späten 90er hießen letztere „Vor v Zakone“, was soviel heißt wie „Dieb im Gesetz“. Dieser Ausdruck stammt noch aus der Zeit der Sowjetunion, als es neben der eigentlichen Gesellschaft noch eine Parallelgesellschaft gab, in der Kriminelle nach eigen Gesetzen und Ehrenkodizes lebten. In den Lagern wurden Mitglieder dieser Gesellschaft als die „Blatnye“ bezeichnet. Sie lebten nach völlig eigenen, strengen Regeln, verachteten den Staat und alle, die sich mit ihm arrangierten und beherrschten de facto die Lager unterhalb der offiziellen Verwaltungsebene. Die in der Hierarchie dieser Parallelwelt am höchsten stehenden sind/waren in den Lagern die „Autoritäten“, in Freiheit die „Vory v Zakone“ (nicht jede „Autorität“ ist ein „Vor“ aber jeder „Vor“ ist eine „Autorität“), die in ihren Kreisen als Anführer, Richter und moralische Instanzen galten. Diese Leute waren in der Regel überaus starke und talentierte Persönlichkeiten. Tatsächlich „schwankt ihr Charakterbild in der Geschichte“, um mit Schiller zu sprechen, da es neben neben einer Vielzahl üblicher Verbrecher manch beeindruckende Charaktere so wie auch einige fiese Gestalten gab. Skrupellos waren sie alle. Als sich in den 90ern eine neue, nun vollends prinzipienlose Generation Verbrecher ihren Weg nach oben freischoss und bombte, ermordete sie dabei systematisch fast alle „Vory v Zakone“ um deren Platz einzunehmen. Seither werden außerhalb der Lager kaum noch Schlüsselpositionen von „Vory“ gehalten, in den Lagern regieren die „Autoritäten“ aber nach wie vor, da die „Neuen“ dort auf ein Beziehungsgeflecht und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Staatsmacht und „Autoritäten“ treffen, in das sie nichts einzubringen haben und das sie folglich nicht knacken können.
Zwei solcher Autoritäten hatten wir also im Zug, wobei sie unterschiedlicher nicht hätten sein können: der eine älter, schmächtig mit ausgezehrtem Körper, über und über mit Sträflingstattoos bedeckt. Dabei hat in der russischen Knastologie jede Tätowierung ihre eigene Bedeutung. Es gibt geradezu „Wörterbücher“ bei der russischen Polizei, die helfen sollen, die durch die Tätowierungen übermittelten Codes zu entziffern. Einige Beispiele: Kreuze (oder Sterne, regional unterschiedlich) auf den Knien bedeuten, dass der so geschmückte niemals vor jemandem auf die Knie gegangen ist oder geht; ein Piratenschiff auf dem Oberarm kennzeichnet einen verurteilten Räuber, eine Vielzahl von auftätowierten Ringen übermittelt dem Eingeweihten Informationen zu „Karriere“ und Ansehen des Verzierten, ein Adler auf der Brust kennzeichnet einen „Vor v Zakone“, Windrosen auf der Schulter erklären die vollständige Verweigerung, jemals Schulterstücke zu tragen, d.h. in Armee oder Polizei zu dienen, usw., usw. Oft finden sich prachtvolle Kirchentätowierungen auf dem Rücken von Veteranen, wobei für jede abgesessene Strafe ein Kirchturm steht und die Anzahl der Glocken pro Kirchturm die jeweilige Strafdauer in Jahren anzeigt. Alle diese Tattoos muss man sich „verdienen“, sie werden gewissermaßen innerhalb der Gemeinschaft der „Blatnye“ wie Orden oder „Offizierspatente“ vergeben. Wer sich eine „Blatnoy-Verzierung“ unerlaubt macht, kann das, je nachdem, was er sich da aufgetackert hat, sogar mit dem Leben bezahlen.
Unser Mitreisender war fast gänzlich dunkelblau am Körper, aus den Tätowierungen ging hervor, dass er zumindest einmal wegen Raub gesessen hatte, widerspenstiger fast weisser Haarschopf, große strahlend graue Augen, die, selbst wenn er lachte, Kälte auszustrahlen schienen. Dabei war er im Umgang eigentlich ganz angenehm und benutze – im Gegensatz zu allen anderen männlichen Mitreisenden – nie, wirklich niemals, ein Schimpfwort, obwohl klar war, dass er da mehr aufzubieten hatte als jeder andere im Zug. Es war einfach unter seiner Würde. Bei den Zwischenstops kauerte er in der für langjährige Häftlinge typischen Hockehaltung auf dem Bahnsteig, trank Bier und kaute Sonnenblumenkerne. Irgendwie hatte er einen Narren an mit gefressen, lud mich ständig zu sich in den Wagen zum Biertrinken ein, doch Vadik hatte eine Heidenangst vor ihm und hinderte mich fast mit Gewalt, die Angebote anzunehmen. Dabei erwies der von Vadik so gefürchtete Unhold als freundlicher und interessanter Plauderer, von dem trotz allem etwas bedrohliches, kaltes auszugehen schien, das einen ständig, gewissermassen im „stand-by“-Regime, auf der Hut sein ließ. Die Mitreisenden in seinem Waggon hielten zu ihm und seinen Kumpels misstrauisch–vorsichtig Abstand und registrierten mit Verwunderung, dass „der Deutsche“ mit ihm recht ungezwungen verkehrte. Vielleicht war es das, was mich ihm sympatisch machte: für mich war er ein interessanter Mitreisender und nicht der bedrohliche Schatten aus einer verdrängten Welt.
Die zweite mitreisende Autorität war äußerlich das genaue Gegenteil: groß, kräftig, kahler Schädel, eine Gaunervisage wie aus einem Nick-Knatterton-Comic, wenige Tattoos, aber, laut Aussage russischer Mitreisender, solche die nötig sind, um im Knast sofort mit Respekt behandelt zu werden. Einige an besonders prominenten Stellen waren aber vernarbt und kaum noch wahrzunehmen, sichtlich die Folge von dilettantischen Entfernungsversuchen. Wie er mir später beiläufig erzählte, habe er mit der Vergangenheit gebrochen und deshalb die Tätowierungen selbst ausgebrannt. Soviel zum Thema Konsequenz und Willenskraft. Er war das klassische Alphatier: Mit ihm im Abteil reisten drei weitere Typen, alle im Autoüberführgeschäft, keiner unter 90 kg gut trainiertes Körpergewicht, mit allen Wassern gewaschene, hartgesottene Charaktere, doch auf einen Wink von ihm sprangen sie auf zum Teewasser holen u.ä. Ohne dass er gedroht hätte oder grob geworden wäre, ließen seine Bitten keine andere Wahl, als ihnen zu entsprechen. Dabei bekam er kaum einen Satz ohne exzessiven Mat’-Gebrauch (Schimpfwortgebrauch) hin. Tatsächlich beherrschte er diese Fluchsprache in einer deratig farbenprächtigen Virtuosität, dass das schon wieder als literarisches Talent betrachtet werden muss – bei ihm verlor dieser ausschliesslich aus Obszönitateten bestehende Jargon seinen vulgären Charakter und wandelte sich zu treffend anschaulich-derben Beschreibungen, denen allerdings eine gewisse Deftigkeit eigen war. Eine fünfzehnminütige Einlassung zum Thema russische Politik und russische Politiker ließ uns alle sprachlos zurück, Vadik und ein anderer Zuhörer stammelten nach einer Minute Schweigen fast gleichzeitig in die Stille: „ein Künstler!“
Ausserdem hatte er einen beeindruckend scharfen Intellekt, zwar nicht durch Bildung aber durch das Leben geschult: Einmal gerieten wir in ein Gespräch über Marktforschung. Er war mit der Materie nicht vertraut und so veranstaltete ich eine kurze „Einführungsvorlesung“ zum Thema. Nachdem ich einige Minuten lang den Gegenstand im allgemeinen skizziert hatte, begann er Fragen zu stellen, aus denen sich dann der logische Fortgang meiner Ausführungen ergab. D.h., noch während ich erzählte, verarbeitete er die Informationen, ordnete sie und stellte die Fragen, die nötig waren, um das Thema in die richtige Richtung ohne Abschweifungen zu vertiefen. Nach einer halben Stunde meinte er dann, das sei ja alles hochinteressant, doch irgendwas gefalle ihm dabei nicht, er müsse darüber noch etwas grübeln. Etwas später traf ich ihn beim Rauchen. Er grinste: „Trotz allem, ihr verkauft heiße Luft!“ Und nun kamen Einwände, die uns bei der Arbeit tatsächlich die meisten Probleme bereiten: von der richtigen Samplegröße um Representativität zu garantieren bis hin zu unvorhersehbaren externen Einflüssen, die unsere Ergebnisse Makulatur werden lassen. Auch wenn er kein einziges Wort Marketing-Slang benutzte (ist übrigends eine fiese Sprache: falsch verwendete englische Wörter, gemischt mit russifizierten Anglizismen und Russisch), hatte er lediglich aufgrund meiner kurzen Einführung und eigenen Denkens die meisten Grundprobleme erkannt. Schade, dass so ein Kopf nur acht Jahre Schulbildung und keine adäquate Anwendungsmöglichkeit für seine Fähigkeiten hat. Er selbst meinte zu dem Thema nüchtern, wenn auch grinsend: „Ich hab ’ne Kriminellenvisage, da kann man nu’ mal nix machen. Damit kriege ich keine vernünftige Arbeit. Hat aber auch Vorteile: Unterwegs nach Westen mit den Autos und überhaupt in unserem Job hab ich weniger Probleme als andere. Jemanden mit so ’ner Fresse anzumachen trauen sie sich meist nicht. Nur den Verkauf der Kisten muss mein Kumpel übernehmen, wer würde von mir ’nen Wagen kaufen?“
Als er in Khabarovsk ausstieg kam er extra zu mir, um sich zu verabschieden. Er tat das mit den Worten „Du bist ein guter Mann. Bleib so wie du bist und pass auf dich auf“, während er mir direkt in die Augen sah. Und ich fühlte mich geehrt. Ich weiß bis heute nicht warum, aber ich fühlte mich geehrt.
Nach der Bekanntschaft mit diesen beiden auf ihre Art aussergewöhnlichen Gestalten kann ich teilweise verstehen, warum sich hier ein bestimmter Musikstil, der „Shanson-Blatnyak“, der solche Persoenlichkeiten und ihre Lebenswelt aus Lagern, Gefängnissen und Bandenkriegen romantisierend zum Thema hat, bei den einfacheren Bevölkerungsschichten Russlands so großer Popularität erfreut – gewissermaßen der Gangster-Rap der russischen Bauarbeiter und LKW-Fahrer.
Sogar ein Hauch von Wirtschaftszeitgeschichte wehte uns auf der Reise an: Eine der Haltestellen war Chita und so war es mir auch vergönnt, einen Eindruck davon zu gewinnen, wo Mikhail Khordokovsky wohl die nächsten acht Jahre verbringen wird – übrigends unter Verletzung russischen Rechts, da Verurteilte ihre Strafe nahe des Wohnortes absitzen sollen. Naja, Moskau und Ostsibirien sind nun nicht gerade direkte Nachbarschaft. Kurz gesagt, „Misha“ wird da nichts zu lachen haben. Ich kenne die Zustände im Lager nicht, aber allein was sich auf dem Bahnhof abspielte, machte den Ort reichlich unsympathisch: Wir kamen spät abends an, wenig zu sehen. Bis Chita hatte es lange keinen Halt gegeben und so waren fast alle Vorräte der Reisenden aufgebraucht. Die Menge stürzte sich geradezu auf die Auslage der Händler auf dem Bahnsteig, nur um nach nur zwei Minuten in Panik in die Waggons zu flüchten, die Fenster zu verschließen und sich in den stickigen Abteilen zu verbarrikadieren: Schwarze, stechende Wolken von Mücken fielen über jeden her, der den Fehler machte sich aus der stinkenden doch einigermassen sicheren Deckung des Abteils zu wagen. Selbst für das mückenverseuchte Sibirien war furchterregend was sich dort abspielte. Wenn ich mir überlege, dass der kultivierte Großstädter und ehemals reichste Mann Russlands unter diesen Umständen dort Zwangsarbeit leistet und dabei, trotz ständigen, dokumentierten Psychoterrors der Lagerleitung bislang nicht klein beigibt, ist das respekteinflößend. Wir waren jedenfalls froh, als sich der Zug in Bewegung setzte und wir dieses Mistkaff hinter uns ließen.
Nach insgesamt dreieinhalb Tagen Bahnfahrt seit Irkutsk fuhren wir endlich eines nebligen Morgens bei Nieselregen in Vladivostok ein. Ab Moskau war ich jetzt etwas über zwei Wochen unterwegs. Ich hatte mir einen Traum erfüllt, einmal mit der Transsib von Moskau bis Vladivostok zu fahren. Jetzt stand die Erkundung Valdivostoks bevor. Einer Stadt, die theoretisch zu den reichsten Russlands gehört (der gesamte Seehandel Russlands mit Japan, Korea, Taiwan und den USA läuft über sie), in der aber jeden Winter bei strengem Frost die Heizung abgedreht wird, da die Stadt entweder ihre Rechnungen nicht bezahlt, oder keine Ölvorräte angelegt hat, oder irgendetwas anderes dazwischengekommen ist.
Fortsetzung folgt.