Transsib (Sommer 2006) T. 2

Transsib (Sommer 2006) T. 2

Die nächste Station auf unserer Reise war Irkutsk, die Hauptstadt von Buryatien. Wir kamen morgens früh an und hatten nur eine gute halbe Stunde Zeit, um einmal quer durch diese uns unbekannte Stadt zu kommen, damit wir nicht den angeblich einzigen Bus pro Tag nach Alkhon, einer Insel im Baikalsee, verpassten. Daher, und weil bei unserer Rückreise sich über Stunden ein sintflutartiger Regen ergoss, so dass wir uns aus dem Bahnhof nicht heraustrauen konnten, bekam ich nur sehr eingeschränkte Eindrücke von der Stadt, die zu beiden Seiten der Angara, eines der saubersten Flüsse Ruslands, und in der Nähe des Baikalsees, des größten Süßwasserreservoirs der Erde, liegt. Die Stadt selbst ist zum größten Teil recht alt und hat architektonisch einen fast europäischen Charakter. Viel Backstein mit einer gewissen Ähnlichkeit zu norddeutschen Kleinstädten. Was die ganze Situation etwas skurril werden ließ, ist die Tatsache, das ungefähr 25% der Bevölkerung eindeutig „mongolischen“, d.h. buryatischen Ursprungs ist, und weitere 25% sichtlich zumindest teilweise Vorfahren aus diesem Volk haben. Man stelle sich eine Kleinstadt wie Buchholz bei Hamburg vor, in deren Straßen fast die Hälfte der Leute nach Hunnen aussieht – das ist so ungefähr das Bild.

Unser Plan war, mit dem Bus von Irkutsk sieben Stunden lang (incl. Fährüberfahrt) nach Alkhon zu fahren, dort im Hauptort ein Zimmer zu mieten und vier Tage die Landschaft zu genießen. Danach zurück nach Irkutsk und mit dem Zug weiter nach Vladivostok. Generell war die Idee, einfach drauflos zu reisen, was Vadik in mächtige Unruhe versetzte – die bösen Buryaten! Für den Notfall hatte Schwiegermuttern allerdings ein paar Ratschläge mitgegeben, die das Überleben sichern sollten. Sie kannte sich schließlich aus, da der Baikal für die Bewohner von Krasnoyarsk und Umgebung beliebtes Urlaubsziel ist.

Am Busbahnhof stellte sich dann heraus, dass wir uns unnötig beeilt hatten: in der ersten Tageshälfte fährt sommers alle Stunde ein Bus. Meine Info über nur einen Bus täglich war veraltet: sie bezog sich auf den Herbst (im Winter gibt es gar kein Bus dahin, nur Verpflegungslaster oder -Hubschrauber). Man hätte sich also in Ruhe die Stadt anschauen können. Oder auch nicht, da Vadik nörgelte, die Stadt sei doof, er kenne sie schon, und ausserdem – die Buryaten….

Der Bus war ein ausrangierter finnischer Linienbus, der mit Touristen und Rucksäcken buchstäblich bis unters Dach vollgeladen wurde, bevor es in halsbrecherischem Tempo losging. Zunächst fuhren wir über asphaltierte Straßen, doch nach etwa der Hälfte der Strecke wechselten diese in eine fiese Schotterpiste. Der wohldressierte Mitteleuropäer, zumal der Deutsche, der nun erwartet hätte, dass die Fahrweise sich den Straßengegebenheiten anpassen würde, wurde überrascht: Der Fahrer verlangsamte das Tempo nicht nur nicht, nein, er gab noch mal richtig Gas. Wer erleben durfte, wie ein mörderisch schlingernder, bedrohlich in allen Fugen knirschender, wegen Altersschwäche in Finnland aussortierter Linienbus auf einer lockeren Geröllpiste bergab Privat-PKW rechts überholt und dabei mit den rechten Rädern teilweise schon von der Piste rutscht, der bekommt eine Ahnung davon, warum gerade im ländlichen Russland die Gottgläubigkeit wieder fröhlich Urständ feiert.

Auffällig war, dass die Häuser der Buryaten im Schnitt größer und überwiegend in einem weitaus besserem Zustand waren, als die der russischen Landbevölkerung jenseits des Urals und in Westsibirien. Außer einigen extremen Verwahrlosungserscheinungen (Häuser im Zustand eines faulenden Bretterhaufens – und trotzdem bewohnt) machte die ganze Gegend einen deutlich erfreulicheren Eindruck auf mich als die rein russisch bewohnten Gebiete: Nicht nur die Dörfer, durch die wir fuhren, wirkten gepflegter, zivilisierter und der Natur in stärkerem Maße abgetrotzt , auch gab es in großem Umfang tatsächlich bestellte Felder, Pferde- und Viehzucht. Kein Vergleich zu vielen Landstrichen, die wir bisher durchfahren hatten und die zuweilen so aussahen, als habe sie die Bevölkerung verlassen oder ausgesetzt (ich weiss, ist eine reichlich angestraengte Metapher: „ausgesetztes Land“, aber der Zustand der Landschaft und Dörfer hatte wirklich oft etwas von einem ausgesetzten Haustier, das nun mehr schlecht als recht in der freien Wildbahn dahinfristet und mit jedem Tag weiter runterkommt). Warum das so ist, d.h. ob die Buryaten nun die eifrigeren und/oder talentierteren Landwirte sind oder einfach mächtig Struktur- oder Minderheitenhilfe vom Staat bekommen, kann ich allerdings nicht sagen.

Die Landschaft selbst war eindrucksvoll: Zunächst weite, leicht hügelige Steppe wie in Dshingis-Khan-Filmen, dann schon fast bergiger Nadelwald (der übrigends nicht, wie oft in Russland, zu beiden Seiten der Straße vollgemüllt war) und schließlich hügeliges Grashochland mit einzelnen Tannengruppen, das entfernt an eine von der Sonne ausgedörrte Variante der schottischen Highlands erinnerte. Als wir endlich den Baikalsee erreichten, kam ich mir fast gänzlich so vor, als sei ich in Nordwestschottland, wenn man von den weitaus höheren Temperaturen einmal absieht: Der Baikal, so gross wie ein Meer (er wird von den Einheimischen, egal ob Russen oder Buryaten, auch nur „Meer“ genannt), die Ufer stark hügelig, fast bergig, entweder Felsen oder mit Gras bewachsen, kaum ein Baum, und im Wasser ebensolche baumlosen Felsen-und Gras-Inseln verstreut. Das Nordufer des Sees soll allerdings ein völlig anderes Bild bieten: dichter Nadelwald und teilweise bergig, so etwa, wie man es aus Filmen über Canadas Wälder kennt. Eigentlich kurios, dass das Südufer die „nördlichere“ Landschaft zu bieten hat.

Während wir auf die Fähre warteten, hörte ich, wie eine vor uns sitzende junge Russin einem Knaben erzählte, sie komme schon seit neun Jahren im Sommer nach Alkhon und die Insel sei quasi ein zweites Zuhause für sie. Ich sofort aufgemerkt: Da ist wer, der uns vielleicht einen Tip bei der Suche nach einer Unterkunft geben kann. Bei sich bietender Gelegenheit sprach ich sie zu dem Thema an und sie erklärte sich bereit, uns vor Ort zu helfen. Nach zehn weitern Minuten föhlichen Geplauders, meinte Zhenia (so hiess sie), sie sei mit Schwester, Schwager und Neffen unterwegs und komme in der Pension von entfernten Vewandten unter. Wenn wir wollten, könnten wir uns ihnen anschließen, sofern dort noch ein Zimmer frei sei; ansonsten würden sie uns aber auf jeden Fall irgendwo einigermaßen anständig unterbringen. Somit war das Unterkunftsproblem glücklich gelöst. Dafür begann nun Vadik, nachdem er keinen Schiss mehr haben musste, dass wir vielleicht für die erste Nacht Schwierigkeiten hinsichtlich der Beherbergung haben könnten, die folgenden anderthalb Tage derartig den Dicken zu machen, dass ich ihm am nächsten Tag fast eine reingehauen hätte und Zhenias Schwester sich gezwungen sah, ihn am zweiten Abend daraufhinzuweisen, dass die Kleine zwar reichlich vollreif aber keinesfalls volljährig sei (nämlich 17) und Vadik ja wohl Familie habe. Außerdem sei sie selber bei der Steuerpolizei in Irkutsk. Das ließ seine schäumend überschwappendenden Körpersäfte augenblicklich gefrieren (oder, bei den damals herrschenden Temperaturen  wohl angemessener: verdampfen) und holte ihn erfolgreich in die Realität zurück. Ein überaus nerviger und peinlicher Auftritt.

Unsere Unterkunft bestand aus einem Zimmer in einem zweizimmrigen Holzhaus. Zwei Betten, kein fliessend Wasser, Plumpsklo 50 Meter entfernt. Zur Katzenwäsche gabs morgends aus einem riesigen Fass kaltes Wasser. Wenn man sich richtig waschen wollte, musste man entweder in den bösartig kalten Baikalsee oder in die Sauna, die es für 7,- DM pro Nase und zwei Stunden zu ordern gab. Mit zwei Mal warmer Verpflegung kostete das für jeden von uns ca. 22,- DM am Tag. Die Schlichtheit dieser Herberge hatte weniger mit unserem Geiz als mit der allgemeinen Situation auf der Insel zu tun: Fließend Wasser gibt es generell nicht, morgens werden alle Häuser und Höfe von einem Tanklaster angesteuert, manche abgelegenen Behausungen versorgen sich sogar direkt aus dem Baikalsee, der (noch!) so sauber ist, dass man sein Wasser nach kurzem Aufkochen problemlos trinken kann. Manch Einheimischer trinkt es sogar einfach so.

Jenen Sommer waren gerade die letzten Siedlungen der Insel ans Stromnetz angeschlossen worden, was mit einem großen Festakt in der „Inselhauptstadt“ unter dem Motto „Strom für Alkhon“ begangen wurde. Wenn man bedenkt, dass laut Lenin gilt: „Kommunismus ist Sovjetmacht plus Elektrifizierung“, dann hat ironischerweise erst der Kapitalismus nach dem Ende der Sovjetmacht es geschafft, in dieser vorindustriellen, von jeder Form des Sozialismus weit entfernten Gesellschaft die zweite der beiden Voraussetzungen des Kommunismus zu schaffen. Da sich hier Sovjetmacht und Elektrifizierung offensichtlich ausschliessen, wird das wohl mit dem Kommunismus endgültig nix mehr.

Obwohl, „vorindustriell“ stimmt nicht ganz. Es gibt auf der Insel eine Fischfabrik, die zu Sowjetzeiten eine relativ große Produktion an Konserven- und Räucherfisch hatte und dem halben Ort Arbeit gab, wobei die ganze Angelegenheit, alten Fotos und Bildern nach zu folgern, eher den Charakter einer Genossenschaftsmanufaktur im Stile des 19. Jahrhunderts hatte. Verarbeitet wurde hauptsächlich Omul, ein sehr zarter, wohlschmeckender und weltweit nur im Baikalsee heimischer Fisch. Inzwischen, nachdem der Staat als Abnehmer weggefallen und keine neue Vertriebsstruktur entstanden ist, siecht das Unternehmen träge in teilweisem Verfall vor sich hin, die Mehrheit der Bewohner lebt von der Zimmervermietung an die immer zahlreicheren Touristen, die auch den überwiegenden Teil der Produktion in Form von Räucherfisch aufkaufen und entweder zum Bier verspeisen oder als Souvenier mitnehmen; Omul ist in ganz Russland für seinen Geschmack berühmt. Tatsächlich ist er geräuchert oder leicht eingesalzen und in dünne Streifen geschnitten eine richtig dufte Sache. Die vier Tage, die wir auf der Insel waren, haben wir uns kaum bremsen können, von morgens bis abends das Zeug in uns reinzustopfen.

Der Ort selbst besteht aus meist einstöckigen, manchmal zweistöckigen, oft mit schönen Ornamentschnitzereien verzierten Holzhäusern, die sich in der Regel mit einem Schuppen, einer Banya und Gebäuden für die Aufbewahrung verschiedener Gerätschaften (incl. Boote) oder Vermietung an Touristen um einen Hof gruppieren und mit einem hohen Holzzaun umgeben sind. Die Straßen bestehen aus Sandpisten mit einer Breite von 50-200 Metern; letzteres die Hauptsraße der Inselhauptstadt. Das ganze wirkte einerseits durchaus solide, gab einem aber gleichwohl ein Gefühl für die Härte des Lebens an diesem Ort, der den größten Teil des Winters mehr oder minder von der Zivilisation abgeschnitten ist. Es war ein bißchen so, als befände man sich in einem letzten Vorposten menschlichen Seins.

Besonders anrührend fand ich an diesem Ende der Welt ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges: Keine Monumentalarchitektur wie sonst üblich, sondern in einem quadratischen Kiesbett, umgeben von einer niedrigen Absperrung durch Ketten zwischen Betonblöcken mit jeweils einem rot bemahlten Stern, ein mannshoher Granitblock hinter einem schlichten weissen Standbild eines Buryaten in Rotarmistenuniform, davor ein in Beton gegossener Sovjetstern ins Kiesbett eingelassen, mit frischen Blumen geschmückt. Im Granit eingemeißelt eine, gemessen an der Ortsgröße, erschreckend hohe Zahl Gefallener. Angesichts der Tatsache, dass es in der Roten Armee die Tendenz gab, die verschiedenen sibirischen Völker in die erste Reihe zu stellen, um Russen, Ukrainer und Weissrussen zu schonen, wenn man gesehen hat, dass für die (zwar unmenschlich hart gearbeitet habenden, doch nie so direkt vom Tod bedroht gewesen seienden) Rüstungsarbeiter in Novokuznetsk Denkmäler stehen, die unvergleichlich protziger sind als diese Referenz an eine ganze Dorfgeneration, die ausserhalb ihrer Welt in einem Krieg gefallen ist, der so gar nichts mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hatte, kann einem die Galle hochkommen, wie der russische Rassismus schon zu Sovjetzeiten selbt im Tod die nicht-europäischer Völker sogar in der Erinnerung an die Helden beim Sieg über den Faschismus gering achtet und ihnen ein solch bescheidenes Denkmal zweiter Klasse errichtet.

Die Ironie dabei ist allerdings, dass dieses schlichte, gepflegte und sich auf die Kernaussage von „…ist für die Sovjetunion gefallen“ beschränkende Mahnmal eindrucksvoller und achtunggebietender ist, als alle Granit- und Bronzeberge, die ich sonst gesehen habe. Jene erschlugen einen propagandistisch, reizten teilweise sogar zu bösartigen Kommentaren, das Denkmal hier gebot tatsächlich Schweigen und Nachdenken. So widerfährt diesen Gefallenen gegenüber dem sie im Grunde verachtenden Staat dann doch zumindest Gerechtigkeit durch die tatsächliche Wirkung des Mahnmals.

Eine der (vielen) Besonderheiten und Eigenartigkeiten der Buryaten ist (neben Jähzorn und unnerschütterlichem Gleichmut – doch dazu später mehr), dass dort das Schamanentum als Volksreligion bis heute lebendig ist. Zuweilen sieht man in der Landschaft einzelne Bäume, über und über mit Seidenschals behängt – ein Zeichen, dass es sich hier um einen sprituellen Ort des Schamanismus handelt. Auch heilige Höhlen gibt es: nicht weit von unserer Unterkunft ragte ein Fels als fast vom Festland abgetrennte Halbinsel in den See. Durch diesen Felsen führte eine „Höhle“ von ca. 20 Metern Länge. Auch in ihr hingen seidene Schals und es geht die Legende, dass man, wenn man sie in einer bestimmten Richtung durchquert, von all seinen Sünden gereinigt werde. Nimmt man jedoch den umgekehrten Weg, so fängt man sich alle dort bis dahin „zurückgelassenen“ Sünden ein. Raffitückische Sache das. Assoziationen mit dem Straßenverkehr stellen sich ein und das ausgeprägte Bedürfnis, immer schön die richtige Fahrtrichtung einzuhalten um nicht als spiritueller Geiseterfahrer einen Frontalzusammenstoß mit den Niedrigkeiten und moralischen Verfehlungen ganzer Buryatengenerationen zu bauen.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war es Frauen überhaupt verboten, diesen Felsen auch nur anzusehen, weshalb sie gezwungen waren, vom Ort zum See einen erheblichen Umweg zu gehen. Verbürgt ist, dass noch bis in die 60ger Jahre hinein buryatische Frauen, die es gewagt hatten, den Felsen anzuschauen, kurz darauf Selbstmord begingen. Warum heutzutage von den Geistern keine Weiblichkeit mehr in den Selbstmord gtrieben wird, erklären Schamanisten ganz pragmatisch: Nicht dass das sinnlos-sadistische Treiben der russischen Bürokratie oder die arbeitslosen, saufenden und prügelnden Ehemänner nun den Job des In-den-Tod-treibens übernommen hätten und weitaus effektiver ausübten, weshalb die Naturwesenheit in dieser Hinsicht die Zügel schleifen lassen könne, nein, die zumehmende Technisierung der Welt und unseres Lebens habe den Wirkungskreis der Geister zunehmend eingeengt und sie immer stärker in die Natuer zurückgedrängt, so dass ihre Macht im Alltag schwächer geworden sei. Nur in Notsituationen, wenn man sie in der richtigen Form anrufe, oder wenn sie schwer erzürnt seien, erhöben sie sich und zeigten ihre wahre Kraft.

Sich dieser Kraft – oder, genauer gesagt, eines Plagiates dieser Kraft – zum Broterwerb zu bedienen, zumal vor einer grandiosen Kulisse wie dem Baikal, umgeben von einem Publikum spiritistisch bewegter, zumeist weiblicher Zivilisationsflüchtlinge, ist eine überaus verlockende Option. Und tatsächlich war es uns bald vergönnt, derartigem Treiben beiwohnen zu können. Eines Tages tauchte in unserer Herberge, d.h. in der Ansammlung einfacher, von den verschiedensten Touristen bewohnten Holzhäuser, eine neue Klientel auf: Hippiesk bis mystisch und betont unforteilhaft gekleidete Menschen beiderlei Geschlechts (der Mann mit Rauschebart und Matte, die Frauen in Schlabbergewändern, die wunderbar mit der Quallenhaftigkeit der von ihnen umschlossenen, durch die völlige Hinwedung ihrer Trägerinnen zum geistigen doch arg vernachlässigten Körper harmonierten), welche sich mit angewiedert-arrogantem Gesichtsausdruck von uns anderen Herbergsbewohnern, die wir fröhlich beim Abendessen beisammensaßen und danach noch geinsam Lagerfeuer veranstalteten, nicht nur absonderten, sondern auf jede Form zivilisierten Umganges bei unvermeidlichen Begegnungen (vulgo: Grüßen), geradezu agressiv muffelig reagierten. Wie wir bald erfuhren, waren das Teilnehmer einer Veranstaltung, die irgendwo zwischen Seminar und Festival angesiedelt war und sich natürlicher und spiritueller Heil- und Erleuchtungsmethoden widmete. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass – übrigends nicht nur in Deutschland, wie die nun einsetzende Diskussion unter uns „Anderen“ zeigte – gerade Menschen, die sich besonders dem Einklang mit der Natur, der Sebstfindung und der Suche nach spiritueller Weiterentwicklung als Antwort auf die Unbillen und Zwänge unserer Industriegesellschaft verschrieben haben, besonders verhärmt, humorlos und bar jeder Lebensfreude rüberkommen. Irgendwie scheint da was mächtig schiefzulaufen…

Egal, im Rahmen dieser Veranstaltung wurde der Auftritt eines Schamanen annonciert. Spannende Sache das. Gegen Abend zur angegebenen Zeit, zu Füßen eines einsam auf einer Klippe stehenden, stets mit vielerlei Bändern und Schals behängten Baumes (ein heiliger Ort, siehe oben) versammelte sich um ein brennendes Lagerfeuer eine bunt gemischte Menschenmenge: vom interessierten Touristen, über alkoholisierte Dorfjugend, bis hin zu den Seminarteilnehmern, im weiteren die „Zielgruppe“ genannt. Etwas abseits saßen einige Buryaten, die mit der Materie sichtlich vertraut waren und offenbar sehen wollten, was hier als Schamanentum angepriesen würde.

Dann trat der „Schamane“ auf: Ein Russe, gewandet, wie man es so aus vielerlei Indianer- und Expeditionsfilmen kennt, allerdings ohne Maske. Zhenia neben mir erklärte sofort, da sei was faul weil Russen per se keine Schamanen sein könnten, ihnen gleichsam das Organ für den Eintritt in die geistige Welt fehle. Der gute Mann begann nun durchaus vernünftig über den Schamanismus im Allgemeinen und seine Spielarten um den Baikalsee im Besonderen zu erzählen, wobei er zuweilen selbstironisch humorig, teilweise mit großem Ernst sprach. Er hatte sichtlich Ahnung vom Thema und war dabei ein rethorisches Talent. Die Zielgruppe schmolz förmlich dahin und selbst das offensichtlich skeptische buryatische Überwachungskommando nickte beifällig. Auch gab er zu, dass die Tatsache, dass er als nicht-Ureinwohner Schamane sei, durchaus der Erklärung bedürfe. Die lieferte er dahingehend, dass er vor Jahren in einer Sinnkrise seinen Job schmiss – ich bin bis heute überzeugt, der Typ war Sales Manager – und in die Wälder Sibiriens zog (Auslöser war, natürlich, die Trennung von einer Frau – wie schrieb schon Alfred Polgar: „Ich habe eine Freundin da ein Mann sein ganzes Unglück von Magenproblemen allein nicht bestreiten kann“). Dort lernte er einen buryatischen Schamanen kennen, der schließlich bei ihm die Fähigkeit zum Kontakt mit den Geistern diagnostizierte und ihn, nach einer langen Prüfungsperiode, sein Wissen lehrte. Nicht unbedingt wahrscheinlich, aber immerhin möglich. Nach einer kurzen Fragesession, bei der die Zielgruppe geradezu hündisch-ergeben an seinen Lippen hing, machte er sich anheischig, eine Seance zu demonstrieren.    Was nun folgte war ebenso lächerlich wie ärgerlich: Nachdem er eine zottelige Kopfbedeckung mit Hörnern übergestülpt hatte, saß er für einige Minuten wie in sich versunken vor dem Feuer, bever er, wirres Zeug stammelnd und von Zeit zu Zeit Zusammenhangloses brüllend aufsprang und begann, um das Feuer zu torkeln als habe er schlechten Sprit gesoffen und werde nun gleichermaßen von Rausch, Übelkeit und Bauchgrimmen gepeinigt. Was der Sache ziemliche Glaubwürdigkeitsdefizite bescherte war, dass ihn sein Torkeln meist in Richtung seiner verzückt dasitzenden oder, mit zunehmender Seancendauer, von konvulsivischen Zuckungen geschüttelten, sich auf dem Boden windenden Zielgruppe führte – für einen in Trance befindlichen eine erstaunliche Treffgernauigkeit. Schließlich sank er ständig sich wiederholendes murmelnd in sich wie erloschen zusammen, kauerte eine Weile stumm am Boden, bevor er wieder „zu sich“ kam und bat, wegen der durch die seelische und körperliche Beanspruchung verursachte Müdigkeit von Fragen abzusehen. Bei echtem Interesse sei er aber zu Einzelsitzungen bereit, über seine Assistentin könnten Termine verabredet werden. Er sei noch drei Tage am Ort. Zu dieser Zeit hatte das buryatische Prüfkommitee den Ort des Geschehens unter Kopfschütteln und Grinsend verlassen. Die Zielgruppe schaarte sich nun fast vollzählig um die Assistentin und berichtete sich während des Schlangestehens gegenseitig über ihre gerade durchlebten Tranceerfahrungen.

Wir jedenfalls hatten bei alledem mächtig Spaß, besonders bei der Beobachtung der Zielgruppe und der Analyse der durchaus beeindruckenden Sales Skills des Schamanen. „Große Schamanerei“ sollte von nun an bei uns bis zum Ende der Reise ein geflügeltes Wort für alles uns begegnende Erstaunliche oder Beeindruckende werden. Andererseits kann es einen schon traurig stimmen, dass manche Menschen an ihrem und dem sie umgebenden Leben derartig verzweifeln und leiden, dass sie willens sind, sich mit all ihrem Fühlen einem solchen Hokuspokus auf dem Niveau eines besseren Kasperltheaters hinzugeben.

Am nächsten Abend fragte mich Zhenia, ob ich Lust hätte, mir Ihr die lokale Diskothek aufzusuchen. Da Vadik mir gerade mal wieder mächtig auf den Keks ging und das Angebot obendrein von einer hübschen jungen Frau kam, sagte ich natürlich sofort zu – was zur Folge hatte, dass Vadik am nächsten Morgen schmollte und mich dann noch den ganzen Tag mit anzüglichen Kommentaren nervte. Statt Russendisko in Berlin nun also „Buryatendisko“ in Khuzhir auf Alkhon.

Erste Station war das dem Dorf-Supermarkt angeschlossene Cafe um sich erst mal warmzutrinken. Bei unserer Ankunft fanden wir ein unerwartet buntes Publikum vor, von deutschen gediegenen Rentnern über französische Rucksacktouristen, russische Ehepaare mittleren Alters – offensichtlich Eltern, die ihren Kindern auf ein paar Bier entkommen waren – bis hin zu bäuerlich-proloider Dorfjugend. Bei aller Unterschiedlichkeit,  war allen der sichtliche Einfluss größerer Mengen Alkohols gemeinsam, wenn auch in deutlich variierenden Intoxikationsgraden. Selten habe ich eine Kneipe gesehen, in der um 22.00 wirklich alle (!) Gäste mehr oder minder stramm waren – und ich hab ja nun weiß Gott jahrelang in einigen Spelunken Nachtdienst getan oder mich zum Vergnügen da rumgetrieben. Was die örtliche Bevölkerung angeht, ist die Sache recht klar: Die Buryaten vertragen, wie alle Kulturen in denen der Milchverzehr mit Ende der Stillzeit aufhört (Indianer, Eskimos, Japaner, etc.), keinen Alkohol, da ihnen ein dazu notwendiges Enzym fehlt. Das heißt, nach wenigen Gläsern ist wortwörtlich zappenduster. Und zwar richtig. Die Russen vor Ort vertragen zwar mehr, doch scheinen sie aus Solidarität alles daran zu legen, möglichst schnell den gleichen Zustand wie ihre mittelasiatischen Nachbarn zu erreichen. Ist zwar etwas teurer und braucht auch mehr Zeit (schließlich muss eine größere Menge Alkohol zu sich genommen werden), wird aber regelmäßig mit bemerkenswerten Resultaten vollbracht. An diesem Ort war es auch, dass ich Zeuge wurde, wie ein Junger Mann derartig dicht war, dass er (handgestoppte) fünf Minuten brauchte, um sich eine Zigarette anzuzünden – wobei zunächst der Filter nicht unwesentlich unter der Einwirkung der Feuerzeugflamme litt und definitiv geschmackliche Einbußen zuverzeichnen waren – bevor er zu seinem Kleinbuss torkelte und krakeelte, er fahre jetzt zur Disko, wer wolle, könne mit.

Hier zeigte sich nun ein zweiter Charakterzug der Ureinwohner Buyatiens: sie kennen praktisch keine Furcht. Ein ganzer Pulk amüsierwilligen Jungvolks zwängte sich nun ohne jedes Zögern laut schwatzend und lachend in das Gefährt (eine sog. „Sanitarka“, ein Kleinbus auf der Basis des UAZik – siehe Moskaureport 9-10 – der ungefähr so aussieht, als habe man unter einen VW-Bus der 70er Jahre ein Landroverfahrgestell geschweißt), dass sich alsbald, nachdem der inzwischen mit der brennenden Zigarette im Mund hinter dem Steuer eingeschlafene Fahrer geweckt worden war, völlig überladen und wild schlingernd in Richtung Disko entfernte. Diese war zum Glück nicht weit, und außerdem erschloss sich mir beim Betrachten der Szene der tiefere Sinn der beeindruckenden Breite der Ortshauptstraße: so schlimm Schlangtenlienien fahren, dass es auf dieser Piste zu Kollisionen mit irgendwelchen Bauten gekommen wäre, hat nicht mal dieser wackere Trunkenheitsfahrer geschafft.

Nachdem wir unser Bier ausgetrunken hatten, wechselten wir in eine andere „Bar“: Ein schlichtes Steinhaus, innen ein rechteckiger Raum durch eine Wand in zwei Hälften geteilt, die eine mit einem Billardtisch bestückt, die andere mit einem Tresen. Die Musik war relativ okay (kein Dumpfpop oder Techno!) und die Enrichtung hätte auch als Besetzerkneipe in Berlin durchgehen können; nichts großartiges, vieles improvisiert aber gemütlich mit einem Hauch von „szenig“, besonders das gelangweilt-herablassende Agieren des Tresenpersonals. Ich war angenehm überrascht. Leider sollte sich dieser Gemütszustand rasch und gründlich ändern als wir das Bier bekamen. Da der Ort erst kürzlich vollständig an das Stromnetz angeschlossen worden war, gab es zwar elektrisches Licht, aber keinen Kühlschrank – und das bei Tagestemperaturen von ungefähr dreißig Grad im Schatten. Die Temperierung des Bieres und der daraus resultierende Genussfaktor waren, zurückhaltend gesprochen, bedauerlich. Da half auch kein noch so angenehmes Ambiente und die stolz und demonstrativ positionierte Mikrowelle (sollte manchen Gästen das Bier zu kalt sein?). Also, die lauwarme Bitterbrühe runtergwürgt und schnell weiter zur eigentlichen Disko, die sich gleichfalls in einem einfachen Steinhaus mit geweissten Wänden befand. Auch hier teilte eine Wand den rechteckigen Raum, allerdings im Verhaeltnis 1:2. Der größere Raum war der „Dancefloor“, der kleinere die „Bar“. Der „Dancefloor“ erinnerte stark an Studentenfeten der frühen 90er: Der Raum dunkel, die Glühbirnen rausgedreht, keine Stühle oder Tische, dafür lagen die Wand entlang leere Flaschen und volle Dorfjugend herum, in jeder Ecke des Raumes eine Box aus der eher Gemeines klang. Für Beleuchtung sorgten die beiden Lichtstrahle, die durch die offenen Türen von der Bar her und von der Straßenlaterne vor dem Haus hereinfielen. Was die Sache allerdings vollends skurril werden liess, waren die Tänzer, die so aussahen, als habe sich der jüngere Teil des Hunnensturms nach dem Tagewerk des Plünderns und Brandschatzens (die Jungs), bzw. des Perdefütterns und Häutewalgens (die Mädels) heimlich davongestohlen, um zu einem Russentechno, der an Grausamkeit nicht hinter den Gräueln der Eroberung Russlands durch die Mongolen zurükstand, das Tanzbein zu schwingen.

Dabei waren allerdings zwei Dinge auffällig: Die junge Buryatin an sich, selbst die in einem Provinznest wie Alkhon, zieht sich überraschend geschmackvoll an. Die sonst in Russlands Provinz oft beliebten Kombinationen aus Rosa, Hellblau, Goldstrass und Epaullietten, waren nicht zu sehen, auch keine Spielart von „marmor washed“ und seinen verwandten Geschmacksverbrechen. Das zweite Phänomen war, dass es Buryatinnen anscheinend nur in zwei Ausführungen gibt: Klein, fast quadratisch und meist unsagbar hässlich, oder groß, schlank und überwiegend beeindruckend schön, wobei ich die Körpergröße an sich nicht als Schönheitskriterium verstanden haben will. Die dazugehörigen Jungs sahen fast alle fies aus: im besten Fall verschlossen-abweisend, oft hinterhältig bis grausam-bösartig. Das lag sicher teilweise an der für uns Europäer ungewohnten Physionomie, doch war auch ein Gutteil tatsächlichen Unsympatentums dabei, da ich weder in Peking noch in Irkutsk beim Anblick der männlichen Besetzung ein derartig verstärktes Gefühl gehabt hatte, auf der Hut sein zu müssen, obwohl an dem Abend im direkten Kontakt alle, wenn auch zurückhaltend, so doch durchaus freundlich waren.

Die Bar war im kleineren Raum untergebracht, bestand aus einem Tresen und drei weißen Plastik-Monoblock-Tischen mit entsprechenden Stühlen dazu. Ausgeschenkt wurde Bier, das, genau!, nur mit reichlich gutem Willen wenigstens noch als lauwarm bezeichnet werden konnte. Die Wirkung war entsprechend verheerend: alle waren rattenstramm. Als uns das handwarme Gebräu etwas später ein Würgen in der Kehle bescherte und wir deshalb zu Vodka übergingen, war der sogar noch wärmer. Was das für Folgen hatte, lässt sich mit Worten nur schwer vermitteln, der Kater am nächsten morgen entzieht sich jeder Beschreibung.

Originell war auch der Anblick vor der Lokalität: Wo in Deutschland der gemeine Dorfdiskobesucher die Parkplätze mit allen Spielarten aufgemotzter Golfs, Opel Mantas und ähnlichem Zeugs vollstellt, war hier die oben erwähnte „Sanitarka“ der populärste Schlitten. Auf zoologische Kategorien übertragen ist das etwa so, als ob in Deutschland der Diskoproll auf mehr oder minder rassigen Pferden einreitet, der Buryate hingegen für diesen Anlass das Rhinozeros bevorzugt.

Kurz nach unserer Ankunft, nachdem Zhenia mit dem deutschen Erwachsenen in ihrer Begleitung bei ihrer Clique tüchtig angegeben hatte, stürzte sie sich in den Strudel der hochpubertären Geschlechterkomunikation und ich kam mit einem Russen und einer nicht hässlichen jungen Dame ins Gespräch, letztere eine Russin, wie ich dachte. Der Junge Mann stellte mir ungefähr zehnmal die gleiche Frage, die ich höflich beantwortete. Als es mir dann irgendwann reichte, kleidete ich meine Antwort in einen Schwall Schimpfworte, worauf er grinste und meinte: „Ah, jetzt hab ich’s verstanden, warum nicht gleich so?“ Jedwede Information wurde von ihm erst registriert, wenn sie in die eine oder andere Verbalinjurie integriert wurde, wobei er auch die größten Unverschämtheiten mit einem Gesichtsausdruck seliger Zufriedenheit hinnahm – immerhin verstand er nun, was Sache war. Allerdings ging er uns alsbald von der Fahne, was bei seinem Trunkenheitsgrad nicht weiter erstaunlich war.       Das Mädchen war zwar auch schon angeheitert aber noch zur Gänze kommunikationsfähig und so entspann sich eine ganz interessante und kurzweilige Plauderei über das Leben im allgemeinen und auf der Insel im Besonderen. Zunächst kam es mir seltsam vor, dass unser Gespräch immer wieder von örtlichen Jungmännern unterbrochen wurde, die mich höflich um Entschuldigung baten und dann bei meiner Gesprächspartnerin anfragten, was sie später mache und ob man sich heute noch amüsieren werde. Nach der vierten oder fünften Anfrage, die von ihr abschlägig beschieden wurde, diesmal mit der Erklärung, sie arbeite heute nicht, war mir klar, dass ich die Dorfnutte quasi zum Blaumachen angestiftet hatte. Als sie mir dann noch erzählte, sie sei zwar russische Staatsbürgerin, aber polnischer Nationalitaet, hatte ich Schwierigkeiten, einen launigen Kommentar zu unterdrücken: selbst in Buryatien ist der physische Dienst am Kunden polnisch besetzt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Kurze Zeit später gesellte sich eine Gestalt zu uns, deren Gesicht offensichtlich alles Abstoßende der Physionomien um uns herum im Konzentrat darzustellen bestrebt war: quadratisch, fast mehr breit als hoch, über und über mit Pickeln übersäht, die Augen sogar nach lokalen Maßstäben extrem schmal, buchstäblich zwei Striche, das Lachen eher ein heiseres Bellen. Das explosionsartig sich in mir ausbreitende Gefühl des Widerwillens verstärkte sich geradezu zur physisch spürbaren Abscheu, als sich der Widerling hämisch grinsend als der lokale Kleingangster vorstellte, dem alle Geschäfte im Ort angeblich Schutzgeld zahlten. Schon erstaunlich, da gibt es in diesem Dorf am Ende der Welt insgesamt ein „Restaurant“, dass eher an eine geräumigere Imbissbude erinnert, zwei Kioske, zwei Lebensmittelgeschäfte, zwei Supermärkte, wovon einer eher eine unfreiwillige Karikatur eines modernen Einzelhändlers ist und drei Kneipen – und schon findet sich einer, der bei den meisten dieser ärmlich-rudimentärem Strukturen privaten Unternehmertums abkassiert um dafür zu sorgen, dass „- Gott verhüte!“ – nicht ein Feuer ausbricht.

Feuer brechen da übrigens zuweilen aus: Vor zwei, drei Jahren hatte ein Geschäftsmann aus Irkutsk an prominenter Stelle im Ort ein richtiges, wenn auch bescheidenes Hotel gebaut, mit eigenem Generator und, daraus resultierend, Strom und fließend Wasser, welches heiss und kalt beim Gast ankam. Damit setzte er ganz neue Standards hinsichtlich Service und Bequemlichkeit für die Feriengäste, was nun die übrige Dorfbevölkerung aus Kunkurrenzfähigkeitsgründen gezwungen hätte, gleichfalls Anstrengungen zu einer Anhebung ihres Dienstleistungssniveaus zu unternehmen. Unruhe und Empörung waren die Folge bis das neue Hotel eines Nachts an mehreren Ecken gleichzeitig Feuer fing und bis auf die Grundmauern niederbrannte. Seither sind kaltes Wasser aus dem Fass zum Waschen am Morgen und der Donnerbalken hinterm Haus wieder unangefochtene Allgemeinausstattung.

Wie auch immer, der Dorfgangster stellte sich im Laufe des Gesprächs als überaus kurzweiliger und angenehmer Plauderer heraus. Eine beeindruckende Charmleistung: mit der Visage Sympathie zu wecken!

Im übrigen wurde ich während des Gesprächs mit ihm Zeuge für eine weitere charakteristische Eigenschaft der Buryaten (nach dem Schamanentum und der Furchtlosigkeit): Gleichmut. Mein Gegenüber war auf einem Motorrad eingetroffen, welches er direkt vor der Disko abstellte. Kaum hatte er dem Gerät den Rücken gekehrt, sprang eine ganze Horde Jungs auf das Gefährt, um sich darauf niederzulassen, einem Rudel Paviane auf einem Felsen nicht unähnlich. Er betrachtete das mit sichtlicher Missbilligung, machte aber keine Anstalten, die Enterer zu vertreiben. Irgendwann hockten dann doch so viele sichtlich betrunkene Gestalten auf dem guten Stück, dass es umkippte. Alle die gerade noch auf dem Bike herumgeturnt hatten, machten ein paar gelangweilte, vergebliche Versuche, das Ding aufzustellen, bevor sie sich achselzuckend abwendeten. Der Schutzgelderpresser stand gemächlich auf, ging schimpfend auf die Gruppe zu, allerdings ohne besondere Aufregung oder Empörung (ich an seiner Stelle hätte gekocht), verscheuchte sie wie einen Schwarm Fliegen mit einigen Handbewegungen und unfreundlichen Worten, richtete das Fahrzeug auf und kehrte zu uns zurück. Noch während er wieder auf uns zukam, erklommen die „Paviane“ in seinem Rücken das Motorrad aufs neue, diesmal jedoch etwas vorsichtiger. Als er dessen gewahr wurde, ermahnte er sie nur zu mehr Umsicht als beim letzten Mal, drohte im anderen Fall ernsteren Ärger an und wandte sich dann wieder gelassen und entspannt dem Gespräch mit uns zu.

Dass die Jungs auch anders können, hatte ich etwas früher am Abend gesehen: zwei Halbstarke, d.h. zwei schmächtige Teenager, waren sich in die Wolle geraten – ich habe selten gesehen, wie sich zwei Leute derartig rasend vor Wut auf die Fresse hauen. Als einer von beiden schon blutverschmiert und halb ohnmächtig am Boden lag, musste der andere noch knapp fuenf Minuten von mehreren weitaus kräftigeren Kerlen als er selber festgehalten werden, um dem Liegenden nicht noch mit beiden Füßen ins Gesicht zu springen. Dies ist die letzte besondere Eigenart der Buryaten: Obwohl eigentlich eher ruhig und gelassen, können sie, wenn einmal gereizt, in rasenden Jähzorn verfallen. Vadik, der mit mehereren Buryaten in einer Einheit gedient hatte, erzählte immer wieder, dass die Jungs eigentlich urgemütlich und nett gewesen seien, sobald sie aber in eine Schlägerei gezogen wurden, hätten sie ohne jede Furcht und Hemmung selbst viel stärkere Gegener in einem Zustand der Raserei halbtot geprügelt und seien dann noch losgezogen, um einen schweren Feldstein zu suchen, um ihn dem in seinem Blute liegendem auf den Kopf zu werfen. Am nächsten Tag erzählten mir unsere Nachbarn, dass eben dieser Charakterzug und die geringe Alkoholtoleranz der Buryaten immer wieder buchstäblich zu Mord und Totschlag führe und ein sehr ernstes gesellschaftliches Problem in diesem Landesteil darstellen.

Wenig später taten dann die warmen Alkoholika ihre Wirkung in einer Weise, dass ich entschied, es sei an der Zeit nach Hause zu gehen, zumal das Volk um mich herum langsam Trunkenheitsstadien erreichte, die zu betrachten unerfreulich war, und auch die aus dem inneren der Disko dringende Musik nervte nun doch ganz gewaltig. Allerdings stellte sich die Heimkehr in völliger Abwesenheit einer Straßenbeleuchtung abseits der Hauptstraße als recht schwierig heraus, da es stockfinstere Nacht war, so dunkel, dass man wirklich gar nichts erkennen konnte und ich mir daher zweimal den Schädel fast an einer Hauswand einrannte. Schließlich tastete ich mich, einem Blinden gleich, mit vorgestreckten Armen durch die Nacht (sah wahrscheinlich reichlich albern aus), bis ich um die Ecke bog, unsere Nachbarn um ein Lagerfeuer sitzen sah und so quasi einen Leutturm zum ansteuern hatte. Nightlife in Buryatien.

Erstaunlich an der Insel ist, neben vielem anderem auch die abrubt und unerwartet wechselnde Unterschiedlichkeit von Landschaft und Flora: eines Tages taten sich alle Bewohner unserer Pension zusammen (außer den „der-Erleuchtung-Zustrebenden“ natürlich), organisierten einen Kleinlaster mit Fahrer, um die Insel zu erkunden. Schon das Ufer des Baikal auf dieser Insel ist sehr unterschiedlich beschaffen und die Bandbreite der vorhandenen Uferformen reicht von Felsklippen über Kiesbuchten, Baggerseen nicht unähnlich, bis zum Sandstrand, der von Kiefern gesäumt wird und mich stark an die Ostseeküste in Jütland erinnerte.  Egal wo, ständig ist es so als sei man an einem glasklaren Meer irgendwo Skandinavien oder Nordschottland  – und dabei liegt Alkhon auf der Höhe von Berlin. Obwohl nicht weit von unserem Ort eben jener „dänische“ Sandstrand lag, der allerdings verhältnismäßig dicht mit Campern besiedelt war, beschlossen wir, eine andere, einsamere Stelle aufzusuchen, um zunächst eine etwa zweistündige Bade-, Angel- und Am-Strand-liege-Session durchzuführen, die mit mit einer heißen, über einem Lagerfeuer gekochten Fischsuppe abgeschlossen wurde. Letzteres war auch dringend nötig, da der Baikal derartig kalt ist, dass nur die oberen 1,5-2 Meter des Wassers von der Sonne so weit erwärmt werden, dass dort leicht über Eiswasser liegende Temperaturen herrschen. Tatsächlich war jener Sommer einer der wenigen, die es wegen der Hitze erlaubten, überhaupt im See zu schwimmen. Einen unserer Mitausflügler musste ich trotzdem wegen eines Krampfes und Atemproblemen aufgrund der niedrigen Wassertemperatur ans Ufer bergen. Waren meine Zeit bei der DLRG und der „Retungsschwimmer Silber“ doch nicht ganz umsonst.

Nach dem Aufwärmen kam dann der eigentliche Abenteuerteil unseres Programms: Zur Inselmitte hin erhebt sich vom Ufer aus betrachtet eine beeindruckend hohe und steile Hügelkette, fast schon einen Bergriegel zu nennen. Vor dieser Barriere ist die Insel grasbewachsen, mit, je weiter nördlich desto größeren, einzelnen Tannenwäldern auf den Erhebungen zur Inselmitte hin. Als wir nun nach einer halsbrecherischen Klettertour mit dem Laster den Scheitelpunkt des Hügels überwunden hatten (teilweise waren wir wegen der Steile des Anstieges fast von der Ladefläche, auf der wir saßen, gerutscht), bot sich landschaftlich ein völlig anderes Bild als bisher: Flache Täler mit Grasbewuchs, umsäumt von sanft ansteigenden Erhebungen, die mit Tannen- oder Mischwald bedeckt waren. Erstaunlich, da sie deutlich höher gelegen waren als die so gut wie baumlosen Ufer der Insel. Das Ganze hatte eindeutig was von der Kulisse in Harrison-Ford-Western wenn sie ihn nicht gerade wieder mal durch Monument Valley gescheucht haben. Das Auftauchen von Planwagen in dieser Landschaft hätte jedenfalls bei uns kaum Verwunderung ausgelöst. Je weiter wir ins Landesinnere vordrangen, desto stärker dominierte dichter Mischwald. Wir fuhren einen großen Kreis, der zurück an die Hügelkette führte, die sich zum Seeufer hin wiederum angsttreibend steil senkte und nach der sich erneut abrubt die fast baumlose „Highland-Lanschaft“ fortsetzte. Es ist, als biete ein riesiger, länglicher, von Nord nach Süd verlaufender Hochtalkessel Schutz vor Wind und Wetter und ermögliche so, gewissermaßen im ersten Stock der Insel, die Existenz einer Zweitwelt, landschaftlich weit weniger herb, mit reicherer Vegetation.  Apropos Vegetation: Auf Alkhon gibt es eine aussergewöhnlich perfide Spielart der Brennessel. Sieht völlig harmlos aus, etwa so, wie eine Kreuzung aus Hanf und Ruccola, sobald man sie aber berührt, brennt sie höllisch und hinterlässt für etwa einen Tag juckende rote Flecken. Ganz gemeines Kraut.

Die Rundfahrt nach verlassen des Strandes sollte laut Aussage des Fahrers ”nicht lange“ dauern, da wir „nur einen kleinen Schlenker“ fahren wuerden. Als wir mehrere Stunden später wie gerädert nach Hause kamen, war uns allen klar, dass bei den Einheimischen, egal ob Russen oder Buryaten, ein ganz anderes Verständnis von Raum und Zeit herrscht.

Dieser Eindruck fand am darauffolgenden Tag auch bezüglich des Raumes eine mehr als eindrucksvolle Bestätigung: Als wir unseren Morgenspaziergang zum Supermarkt machten, wurden wir auf dem völlig leeren, ungefähr zweihundert Meter breiten und gut hundert Meter langem Sandplatz vor eben jenem Supermarkt Zeuge eines Frontalzusamenstosses zweier sich schlingernd aufeinander zubewegenden Kleinlaster. Bei DER Topographie und der reichlich Spiel habenden Lenkung der Gefährte hätte unsereiner richtig angestrengt zielen, wenn nicht sogar lange üben müssen, um dieses Kunststück fertigzubringen. Die hiesigen Jungs habens spontan und auf Anhieb sauber hingekriegt. Was uns aber fast noch mehr verblüffte, war die Tatsache, dass alle den doch reichlich kuriosen Vorfall ohne jede Spur von Erstaunen als schicksalgegeben hinnahmen ohne sich seiner Komik auch nur ansatzweise bewusst zu sein. Naja, nachdem ich gesehen hatte, in welchem Zustand und mit welchem Gottvertrauen die ihre Fahrzeuge zwecks Diskobesuch erklimmen, hätte mich das eigentlich nicht mehr wundern sollen. Zeit und Raum bei uns und denen sind wirklich völlig unterschiedlich Dimensionen. Wer letztenendes mit seiner Sicht unbeschadeter durchs Leben kommt, fällt mir bis heute schwer zu entscheiden.

Am letzten Tag auf Alkhon besuchten Vadik und ich noch das Dorfmuseum, wobei die eigentlich ihren Ruhetag hatten und nur zufällig jemand von Personal anwesend war. Mit vereintem Schwiegersohncharme gelang es uns, dass diensttuende Mütterchen breitzuschlagen, uns trotzdem reinzulassen. Während wir umherstreiften, kamen immer neue Besucher, die mit dem Hinweis auf uns Zutritt begehrten und allmählich das Museum füllten. Als wir schließlich gingen, wurde uns halbö halb vorwurfsvoll mitgeteilt, dass unseretwegen dieser Ruhetag nun endgültig gegessen sei.

Meine Erfahrung ist, in all diesen Heimatmuseen erfährt man nicht nur viel über die Geschichte des Ortes, man lernt auch, was aus der Sicht der Dorfbewohner die wichtigen und bedeutenden Momente in der Vergangenheit ihrer Heimat sind: Hier waren es, wie zu erwarten war, der Kampf mit der Natur, die Jagd und der Fischfang und der Einzug der Technik und Zivilisation in diese Sphären. Überraschend war dagegen die fast kultische Verehrung des ersten Lehrers und Schulgründers auf der Insel. Während der sonst in russischen/sovjetischen Einrichtungen fast hymnisch verklärend erinnerte Krieg nur eine geringe Rolle spielte, war ein bedeutender Teil des Museums der ersten Schule und ihrem Direktor gewidmet. Der Knabe muss extrem lässig gewesen sein: Mit Rauschebart, schwarzer Sonnenbrille, Ledermütze und langem Ledermantel auf seinem Motorrad erinnerte er eher an eine Alt-„Angel“ und Ur-Biker als an einen Akademiker. Er scheint, den im Museum ausgestellten Zeugnissen nach, mit seinem Bike überall auf der Insel gewesen zu sein, wobei die Ergebnisse dieser Forschungsreisen sich dann in einer Vielzahl wissenschaftlicher Schriften niederschlugen. Außerdem brachte er Bildung und Hoffnung an diesen Flecken am Ende der Welt. Ein grundsympatischer Zug des Museums, einem Lehrer und seinem Wirken so viel Raum und liebevolle Aufmerksamkeit zu widmen. Nicht dass ich jetzt grundsätzlich von meinen früheren Äußerungen aus Schulzeiten, Lehrer seien im Herzen alles Sadisten, abrücken wollte, doch sind sowohl die Gestalt dieses Lehrers mit ihrer Mischung aus Stilisierung als Bohemien in der Wildnis und tatsächlichem lehrenden Wirken als auch die Dankbarkeit des Dorfes diesem Mann gegenüber, die aus der Museumsausstellung spricht, zutiefst anrührend und beeindruckend. Hier wird einem geradezu greifbar, was es heißt, das Licht der Bildung in die Finsternis des Unwissensens zu tragen und welche Dankbarkeit und Achtung jene empfinden, die auf diese Art erleuchtet wurden.

Diese Achtung der Bildung gegenüber wird um so schmerzlicher spürbar wenn man sieht, wie bei uns im Westen, dem utilitaristischen Paradigma einer durchökonomisierten Gesellschaft folgend, Bildung zur industriell verwertbaren Ausbildung verkommt, während gleichzeitig ein wachsender Teil der Bevölkerung mit Hilfe von Videospielen und Privatfernsehen auf das Niveau grenzdebiler Halbalphabeten zrückgeworfen wird, deren Fertigkeiten im Umgang mit dem Schrifttum sich beschränken auf das mühsame Entziffern von „Bild“-Hetz-Artikeln und das ungelenke Unterschreiben zunehmend bedeutungslos werdender Arbeitsverträge.

Am Tag unserer Rückreise nach Irkutsk wurden Vadik und ich beim Verproviantieren Zeugen einer typischen Szene aus dem Elendsalltag des russischen Provinzalkoholismus: Zwei Typen unbestimmbaren Alters, an ihren aufgedunsenen rot-blauen, mit Schorf bedeckten Gesichtern leicht als Alkoholiker zu erkennen, erstanden vor uns eine kleine, verschimmelte Gurke und einen Viertelliter Eau de Cologne, mühsam die wenigen für beides nötigen Rubel zusammenkratzend. Noch beim Hinausgehen wurde die Flasche mit zittrigen Fingern geöffnet und, während der fünf Minuten, die Vadik und ich im Geschäft verbrachten, ausgetrunken, mit der Gurke als Nach-Happen um den widerlichen Geschmack des Gesöffs zu mildern. In dieser Szene offenbarte sich ein Faktum, dass einerseits die offizielle Alkoholstatistik in Russland deutlich schönt und gleichzeitig zu den grausamen Folgen des Alkoholmissbrauchs in den ländlichen Gegenden des Landes entscheidend beiträgt: Es gibt hier eine ganze Industrie, die technischen Sprit herstellt, der bei seltenem Genuss zwar nicht unbeding heilend wirkt, wohl aber auch niemanden umbringt. Bei Dauerkonsum hat das Zeug jedoch verheerende Folgen für Koerper und Geist. Dieses Langzeitgift wird nun als Eau de Cologne oder Lösungsmittel verkauft, was einerseits ermöglicht, die lästigen Gesundheitskontrollen zu umgehen und außerdem die zu zahlenden Steuern auf Trinkalkohol wegfallen lässt. Obwohl technisch und ohne nennenswerten zusätlichen finanziellen Aufwand durchaus möglich, wird die zweifelhafte Substanz natürlich nicht vergällt – sonst könnte man sie ja nicht trinken. Genau das ist aber der eigentliche Zweck: ein preislich erschwingliches Doofmittel für die Ärmsten der Armen unter die Leute zu bringen und so auch noch am Elend der Allerfertigsten zu verdienen. Das Marktvolumen wird dabei auf mehrere hundert Milionen, wenn nicht einige Miliardenn Dollar geschätzt und die staatlichen russischen Gesundheitsstellen gehen davon aus, dass, würden diese Tinkturen und der landesweit hergestellte Selbstgebrannte auch nur teilweise in die Statistik über den Alkoholkonsum pro Kopf in Russland einbezogen, hätte das eine Verdoppelung der Zahlen zur Folge. Natürlich wird gegen dieses, den staatlichen Stellen bestens bekannte Phänomen nur halbherzig eingeschritten, da es daran für alle aktiv Beteiligten und noch aktiver Wegschauenden viel zu verdienen gibt. Jedenfalls liegt hier  (neben der auf dem Dorfe sehr verbreiteten Schwarzbrennerei) die Lösung des Rätsels, warum Russland beim Alkoholkonsum in allen offiziellen Statistiken hinter Australien, Deutschland, Tschechien, Frankreich usw. liegt, dabei aber Großteile der, insbesonderen ländlichen, Bevölkerung dauerstramm sind. So weit dazu.

Vadik und ich bestiegen nun den Bus, der uns in einer achtstündigen Fahrt zurück nach Irkutsk brachte, wobei sich die Rückfahrt noch eindruchsvoller als die Hinfahrt gestaltete: Nicht nur dass Vadik in einer Landgaststätte ein lokales alkoholisches Getränk aus vergorener Stutenmilch (irgend was Kumis-ähnliches) probierte, das ihn nach nur einem Glas völlig niederschlug und für zwei Stunden außer Gefecht setzte (mir hatte ein ungutes Gefühl geraten, die Finger davon zu lassen, ich hatte einen Schluck probiert – interessant aber nicht doll – aber mehr auch nicht), auch begann nach der Hälfte des Weges ein sintflutartiger Regen, der so stark war, dass die maroden Fensterdichtungen des Busses den Dienst versagten und das Wasser in einem feinen Sprühregen auf die Passagiere niederging, bis wir die Fenster sämtlich (!) mit Tempotaschetüchern notdürftig abgedichtet hatten. Den Rest der Fahrt verbrachten wir zu einem nicht geringen Teil damit, ständig die Papierdichtungen zu erneuern, um nicht innerhalb des Busses geduscht zu werden.

In Irkutsk dann war wegen des Wetters an eine Stadtbesichtigung leider nicht zu denken. Ausserdem legte Vadik wieder seine Lieblingsplatte auf: Die sinistren Buryaten…. Wir richteten uns daher im Bahnhof ein, wobei wir glücklicherweise bald eine ballsaalgleiche Räumlichkeit mit Plasmafernsehern, Kronleuchtern, Wandspiegeln und Plüschsofas entdeckten: der VIP-Aufenthaltsraum. Für 15 Rubel die Stunde (1,- DM) konnte man da auf den Sofas schlafen, fernsehen und eigentlich ganz gemütlich die Zeit verbringen. Ausserdem sorgte die Anwesenheit einer Concierge dafür, dass eine Ausplünderung der Schlafenden unterblieb. Nebenan waren für ein paar Rubel mehr durchaus saubere Duschen zu mieten. Wir hatten jedoch zunächst noch anderes zu tun, da wir Tickets für einen Großraumwaggon hatten und uns die Perspektive, drei Tage in einer Zwangsgemeinschaft mit etwas über vierzig Leuten quasi in einem Abteil zu reisen, nicht unbedingt behagte, zumal in diesen Großraumwaggons nicht gerade der kultivierteste Teil der Bevölkerung zu reisen pflegt. Nachdem wir vergeblich mehrere Kassen abgeklappert und nebenher noch zwei Amis geholfen hatten, Großraumwagentickets von Irkutsk bis Charkow in der Ukraine zu kaufen (eine fünftägige Reise, aber sie wollten es unbedingt so;  um die russische Seele zu ergründen – die werde Seele bis zum Abwinken bekommen haben), gelang es uns endlich, unsere Fahrkarten mit Zuzahlung gegen Abteiltickets in einem Zusatzzug zu tauschen, der in keinem Fahrplan stand und nur eine behelfsmäßige Zugnummer hatte. Das hätte uns eigenlich zu denken geben müssen, aber wir waren zu müde, schlichen nur noch auf unser Plüschsofa, um vor der Weiterreise wenigstens etwas zu schlafen.

Wird fortgesetzt.

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