Sibirienreport (März 2002)

Sibirienreport (März 2002)

Liebe Freunde,
an alle ein erster Lagebericht aus Russland. Für alle, die es noch nicht wissen: Ich bin seit einiger Zeit für eine Firma in Russland, die im Auftrag der EBRD Entwicklungshilfeprojekte im Finanzdienstleistungssektor durchführt, indem sie russischen Banken beibringt, wie man gewinnbringend Kredite an Klein- und Mittelbetriebe vermittelt und diesen so die Chance auf eine nicht-mafiöse Kreditfinanzierung eröffnet (the punk went bank). Zunächst als Praktikum angelegt, soll diese Beschäftigung bei Bestätigung eines bestimmten Großprojektes in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis überführt werden.

Inspiriert von einer Freundin, die seit einiger Zeit regelmäßige E-Mail-Berichte aus Japan verschickt und so manches Erstaunliches zu berichten weiß, habe ich mich entschlossen, Ähnliches zu versuchen, d.h. in Abständen über Absurdes, Wissenswertes, Wunderliches, Empörendes und Erbauliches, das mir widerfährt zu erzählen. Einerseits kommt das meiner Faulheit entgegen weil ich so nicht allen einzeln das gleiche schreiben muss, andererseits kann ich aus Erfahrung sagen, Russland ist für die meisten in Deutschland nach wie vor terra incognita, deren Bild von der oftmals recht eigenwilligen und nicht unbedingt korrekten Medienberichterstattung geprägt wird. Außerdem sind Land und Leute wirklich immer für eine Überraschung gut. Kurzes Beispiel noch vor meiner Ankunft hier:
Beim Einsteigen ins Flugzeug in Berlin (natürlich Aeroflot) waren die Handgepäckfächer der letzten fünf Reihen nicht zu benutzen – angeblich befand sich dort eine nicht näher bezeichnete Sicherheitsausrüstung. Nicht ausgeschlossen, aber wahrscheinlicher ist, dass die Besatzung da irgendetwas geschmuggelt oder auf eigene Rechnung transportiert hat (ein Bekannter, der bei einer russischen Fluggesellschaft arbeitet, kann in diesem Zusammenhang Atemberaubendes erzählen).

Die hereinströmenden russischen Passagiere interessierte das Benutzungsverbot wenig, und sie begannen, (auch mangels anderer Möglichkeiten) ihr Handgepäck in die verbotenen Fächer zu stopfen. Darauf pöbelte die Stewardess auf Russisch wortwörtlich los: „Sind sie denn alle total bekloppt? Bald stürzen wir vielleicht ab und sterben dann alle, nur weil sie die Sicherheitseinrichtungen blockieren.“

Man lasse sich den Text auf der Zunge zergehen und stelle ihn sich im Flugzeug einer westlichen Airline vor, wo „Absturz“ im Umgang mit den Passagieren ein absolutes Un-Wort ist. Der russische Flugreisende scheint psychisch stabiler zu sein als der westliche.

Das Leben in Russland hat, wie ich mich schon früher überzeugen konnte, seinen eigenen Charme. Euch daran teilhaben zu lassen, werde ich mich in meinen Mails bemühen.

Seit 1.3.02 bin ich in Moskau, wohne kostenlos in einer Firmenwohnung mitten im Stadtzentrum zwei Minuten zu Fuß vom Büro entfernt, was angesichts meiner morgendlichen Tranigkeit durchaus von Vorteil ist. Bei den hiesigen Hotelpreisen (es gibt in Moskau praktisch nur Absteigen oder Fünf-Sterne-Hotels) ist es für die Firma billiger, ständig eine Wohnung zu mieten, als ihre zahlreichen Dienstreisenden in Hotels unterzubringen.

Die Wohnung befindet sich im 14. Stock eines Hochhauses am „Novy Arbat“ (Neuer Arbat), eines einst als sowjetische Prachtstraße geplanten Boulevards im alten Zentrum Moskaus, parallel verlaufend zum weltbekannten tatsächlichen Arbat. Letzterer ist mittlerweile eine Fußgängerzone, die sich durch ein aus Altbauten, Gassen und Hinterhöfen bestehendes Stadtviertel gleichen Namens schlängelt. Dort treffen sich seit den Jahren der Perestrojka Künstler, Musiker, Freaks und ähnliches Volk (nachdem der Stadtteil schon zu Stalins Zeiten ein Künstler- und Kneipenviertel gewesen war), machen Musik, stellen Bilder auf (in der Hoffnung, sie teuer an Ausländer zu verkaufen), veranstalten Performances, gedenken Viktor Zojs (etwa ein russischer James Dean und Bob Dylan in einer Person) usw.

Allerdings verkommt das Ganze immer mehr zu einer kommerziellen Touristenattraktion, was sich in den maßlos überteuerten Souvenir- und Ramschständen äußert, die sich pickelgleich auf der Straße ausbreiten und in etwa das gleiche Sortiment aufweisen, wie entsprechende Einrichtungen rund ums Brandenburger Tor oder den Checkpoint Charly.

Moskauer findet man da kaum noch, nur westliche Touristen oder zugereiste Provinzler. Daher ist es immer besonders erheiternd zu sehen, wenn deutsche Fernsehkorrespondenten in vocs pops demonstrieren wollen, was „die Moskauer“ zu einem bestimmten Thema denken – und dann auf dem Bildschirm eindeutige Dorfrussen auf dem Arbat stehend irgendwelchen haarsträubenden Unsinn zum besten geben. Das ist dann immer so, als stünde ein ausländisches Fernsehteam am Brandenburger Tor und verkaufe seinen Landsleuten einen Rico Krause aus Meck-Pomm oder einen Franz Fröschle von der Schwäbischen Alb und ihre vorurteilsgeladene Law-and-Order-Weltsicht als die Meinung „der Berliner“.

Erstaunlich sind die Treffen und wilden Konzerte der Anhänger des sogenannten Russkij Rock, musikalisch eher unergiebiger Schweinerock mit hoch lyrischen und tief depressiven Texten, die auf der Straße oder in den benachbarten Fußgängerunterführungen stattfinden: Einige Gitarrjeros, manchmal von Bass und Stehschlagzeug unterstützt, manchmal nur mit Akustikklampfe bewaffnet, spielen Lieder von Kino (deren Sänger und Texter oben erwähnter Viktor Zoj war, bevor er sich standesgemäß bei einem Autounfall zerlegte, um den sich bis heute die wirrsten Verschwörungstheorien ranken), Krematorium, Auktion, DDT und anderen, umgeben von einer Menge meist angetrunkener, depressiv rüberkommender, inbrünstig mitsingender junger Menschen, die alles daran setzen, genauso betrüblich auszusehen, wie die ersten Rocker während der Perestrojka: schmierig, mit Wollpullis in die Jeans gesteckt, Plastik-Lederimitat-Jacken, fingerlose schwarze Lederhandschuhe, Bandanas mit Kino- oder anderen Schriftzügen. Dazu graue, erloschene Gesichter, in denen die Augen nur beim Mitsingen der lebensverachtenden oder todesverherrlichenden Hymnen aufleuchten.

Angesichts dieses deprimierenden Lebensinhaltes ist es nicht weiter erstaunlich, dass viele von denen in Alkohol- und Drogensucht enden – so wie ein durchaus als genial zu bezeichnender Moskauer Fotograf, den ich vor Jahren kennenlernte, der dann schließlich seiner vielseitigen und vielversprechenden Existenz mit einer Überdosis erfolgreich ein abruptes und überflüssiges Ende setzte. Es ist, als seien die Bewohner einer anderen Zeit in das heutige Moskau gebeamt worden. Und diese Gedanken beschleichen einen beim Anblick von Jugendlichen, die real unendlich mehr Möglichkeiten haben als jene Russkie Rockery zur Zeit des Kommunismus und die während der Hochzeit dieses Phänomens gerade ein paar Jahre alt oder noch nicht einmal geboren waren. Traurig! Eine russische Punkband (“Tarakany” – zu Deutsch “Kakerlaken”) hat dazu einen sehr passenden Song an einen depressiven RR-Hörer geschrieben: „Hey Junge, was hat der Russkyj Rock aus dir gemacht? Noch keine fünfzehn und schon fertig mit dem Leben.“

Der Novyj Arbat nun wurde von der Partei 1968 einerseits als Ein- und Ausfallstraße zum Stadtzentrum und andererseits zur Kontrolle des unübersichtlichen Straßen- und Hinterhofknäuls als mehrere hundert Meter breite Schneise durch das Gewirr der Gassen und Höfe planiert. Er ist gesäumt von Hochhaustürmen auf der einen und von Hochhausriegeln auf der anderen Seite, beides in sympathischem betongrau gehalten, und hat den architektur-ästhetischen Charme eines wulstig vernarbten Säbelhiebs quer über das Gesicht einer älteren Dame. Betagte Moskauer schimpfen die Straße bis heute eines der größten Verbrechen des Kommunismus an Moskau – sie sei der architektonische Ausdruck der Zerstörung des Charakters und der Persönlichkeit der Stadt.

Als ob das nicht schon schlimm genug sei, haben die übelsten Elemente des postkommunistischen Russlands den neuen Arbat als ihre Prestigemeile auserkoren: die Betonklötze sind besiedelt mit Restaurants, die großspurig ihre vermeintliche Klasse mit den Insignien des neurussischen „Niveaus“ zu unterstreichen suchen: Spiegelfenster, blitzende Leuchtreklame und riesenhafte, kahlgeschorene, aggressive Türsteher. Daneben „Kasinos“, die aussehen wie größenwahnsinnige, goldfolienbeklebte Spielotheken, sündhaft teure Boutiquen in denen, dem unerfreulichen Geschmack der Klientel entsprechend, eher prollig-ordinär-protziges feilgeboten wird. Außerdem allenthalben kleine Kioske, die raubkopierte Kassetten und CDs verkaufen und die gesamte Straße mit unsäglichem Stumpftechno beschallen.

Zwischen diesem Grauen überall auf Bürgersteig und Fahrbahn die ohne Rücksicht auf Fußgänger oder Verkehrsregeln geparkten Angeberschlitten der Reichen mit darin schlafendem Chauffeur. Der Novy Arbat ist so zum konzentrierten Ausdruck all dessen geworden, was im neuen Russland abstoßend ist: Gigantomanisch, trist, brutal, grau, laut, angeberisch, übersäht mit billigem Glittertand, der jedoch verstanden als Zeichen des Reichtums, dabei aber kaum über den Glitzer- und Leuchtreklamecharme eines mittelmäßigen Puffs hinauskommend, bevölkert von Gestalten, deren intellektuell-kulturelles Niveau irgendwo zwischen Neandertaler und Marodeur zur Zeit des Hunnensturms liegt und der langen geistigen Tradition des Landes und seiner hochgebildeten Intelligencija und ihrer erbärmlichen Lebenssituation hohnspricht. Wer wissen will, was in den 90ern in Russland schiefgelaufen ist, stelle sich offenen Auges auf den Novy Arbat und er wird schlagartig vieles verstehen.

Entschädigt werde ich für diese Umgebung neben dem kurzen Fußweg zur Arbeit mit dem herrlichen Blick aus dem Fenster über die Stadt. Besonders Sonnenauf- und Untergänge geraten zu Schauspielen, für die Geld zu bezahlen sich lohnen würde. Da fällt die Tatsache, dass ich wegen des Straßenlärms nur mit Ohrenstöpseln schlafen kann fast schon nicht mehr ins Gewicht.

Morgen ist Frauentag, d.h. ab heute Mittag bis übermorgen Abend ist das ganze Land im Zustand ständiger Feierei, was meine Konditionsreserven nach allen Begrüßungstrünken nach meiner Ankunft hier endgültig aufzubrauchen droht. Naja, so richtig schrecklich ist das natürlich nicht, zumal der 8.März hier etwas ganz anderes ist als bei uns:
Im Westen eher symbolisch begangen, ist der Weltfrauentag in Russland einer der Hauptereignisse des Jahresfeiertagskalenders. Schon in der Woche davor ist es schwierig, Termine mit Geschäftspartnern und Kunden zu vereinbaren, da über diesen Zeitraum verteilt in fast allen Betrieben – den Möglichkeiten der Terminzwänge entsprechend – schon einmal vorgefeiert wird, der 8. März selbst ist nämlich frei. Dabei wird das „schöne/herrliche Geschlecht“ (prekrasnyj pol) vom Betrieb mit Blumen und Konfekt bedacht, bevor die männlichen Kollegen dann nochmal Blumen, Konfekt, kleine Geschenke und ordentlich süßen Sekt hinzufügen. In manchen Firmen kochen sie sogar etwas für die Damen.

Am Vorabend des Feiertages ist die Stadt dann erfüllt vom Gelächter und den Gesängen umherschweifender Rudel der blumenbeladenen Gefeierten, die offensichtlich reichlich geistigen Getränken zugesprochen haben und deren Laune zwischen mutwillig-fröhlich und ausgelassen-krawallgestimmt oszilliert. In der U-Bahn wird über Lautsprecher der Weiblichkeit gratuliert und den 8.März über zeigt das Fernsehen fast ausschließlich Filme, die als „weiblich“ gelten. Gleichzeitig überschlagen sich die Männer den ganzen Tag lang in der Bereitschaft, ihre Frauen, Mütter, Freundinnen usw. zu umsorgen und zu bedienen. Selbst vor der aktiven Übernahme von Haushaltsarbeiten wird nicht zurückgeschreckt – und das in einem Land in dem der durchschnittliche Hauschauvi sich eher mit heruntergelassener Hose auf die Hauptstraße stellen würde als eigenhändig in der Küche eine Kaffeetasse abzuwaschen.

Ein Bekannter meinte einmal sehr passend, das ganze erinnere ihn an eine Tradition im alten Rom, nach der die Herren einen Tag im Jahr ihre Sklaven bedienen mussten um nicht zu vergessen, in welch glücklicher Lage sie sich üblicherweise befanden. Die Absurdität der Veranstaltung kam sehr schön in einem Fernsehspot zum Ausdruck: Während eine Frau mondän in einen Sessel hingestreckt ruht und Sekt und kandierte Früchte genießt, wuselt ihr Mann in Schürze servil um sie herum, wischt Staub, wäscht Geschirr usw. Als es Mitternacht schlägt, lümmelt er sich augenblicklich aufs Sofa, schaltet im Fernsehen Fußball ein und verlangt laut nach einem kühlen Bier. So ungefähr läufts.

Am Montag fliege ich dann weiter nach Novosibirsk, wo ich die ersten drei Monate meiner Ausbildung verbringen werde. Wohin ich danach komme, weiß ich noch nicht. Novosibirsk ist fiesestes Sibirien, allerdings haben mir alle gesagt, die Stadt sei sehr schön, es gebe viele Kinos und Theater und außerdem ist die Landschaft rundherum wohl sehr eindrucksvoll. Auch habe ich hier in Moskau jemanden aufgetan, der in einer Hobbyliga Eishockey spielt und versprach, mir im nächsten Winter zu allen größeren Städten Russlands Infos über Hobbymannschaften, in denen man mitspielen kann, zu besorgen. Die Zukunft sieht gut aus.

Zum Abschluss noch eine kurze Anekdote aus meinem neuen Arbeitsalltag: Ein Kleinhändler (so etwas wie ein Döner-Mann) hat, um einen Kredit zu erhalten, seinen Umsatz nach oben frisiert, allerdings derartig stümperhaft, dass er hätte zehn Stunden lang sieben Tage die Woche sechzig Kebabs pro Stunde hätte verkaufen müssen, um die angegeben Verkaufszahlen tatsächlich zu erreichen. Abgesehen davon, dass das rein technisch schon nicht möglich ist, stand groß an seiner Bude, dass Samstag und Sonntag geschlossen ist und er pro Arbeitstag nur sieben Stunden auf hat. Außerdem meinte seine Angestellte auf Nachfrage, dass der durchschnittliche Tagesverkauf bei sechzig Kebabs liege. Dumm gelaufen. Die Mädels von der Kreditabteilung haben jedenfalls herzlich gelacht und ihm die Tür gewiesen. Soweit die ersten Tage. Ich werde mich in unregelmäßigen Abständen melden.

An alle alles Gute,
Freundschaft,
Kai
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