Moskau Report (Dezember 2004)

MoskauReport (Dezember 2004)

Hallo mal wieder an alle. Wie im letzten Report versprochen, hier als erstes die Geschichte, warum Svetlana, obwohl sie meinen Familiennamen angenommen hat, laut Reisepass anders heißt als ich und wir in Deutschland Probleme haben werden, unsere Ehe annerkannt zu bekommen:

Also: Um zu heiraten, musste ich meinen Ausweis notariell beglaubigt ins Russische übersetzen lassen, wobei mein „Siewert“ auf Russisch dann so aussieht: «Зиверт».

In der Heiratsurkunde findet sich nun die Formulierung: „…wird den Eheleuten der gemeinsame Familienname «Зиверт» zuerkannt“. Mit diesem „russischen“ Familiennamen hat sich Svetlana zunächst einen Inlandspass (sowas wie unser Personalausweis) machen lassen und dann einen Reisepass beantragt. Den dafür notwendigen Dokumenten haben wir eine Kopie meines Passes, der notariellen beglaubigten Übersetzung und ein Schreiben beigefügt, mit der Bitte, die lateinische Schreibweise des Familiennamens der meinen anzupassen. Als Sveta sich nun den Pass abholte (wozu sie über 4000 km nach Sibirien fliegen musste – Pässe werden in Russland nur am Ort des gemeldeten Wohnsitzes ausgestellt und ohne Immobilienbesitz können sich Nicht-Moskauer in Moskau nicht anmelden), stand da als Familienname „Zivert“. Das Argument der Damen auf dem dortigen Einwohnermeldeamt: uns sei laut Heiratsurkunde der Familienname «Зиверт» zuerkannt, das sei damit ein russischer Name und für solche gelte nach der Rechtslage verbindlich die englische Transkription. Wenn wir es anders geschrieben haben wollten, sollten wir beweisen, das unser Familienname ein deutscher sei  (es ist ja weltbekannt, dass es keinen russischeren Familiennamen als Siewert gibt). Z.B. könne das Hauptstandesamt in Moskau in die Heiratsurkunde in Klammern Siewert in lateinischen Buchstaben hinzufügen.

Ich also bei dieser Behörde in Moskau angerufen. Zu mir waren die sehr freundlich, als ich denen aber das Problem und unser Ansinnen (Nachtrag des lateinischen Siewert) erklärt hatte, fand meine werte Kontakperson am Telephon für ihre krasnoyarsker Kolleginnen Worte, die sich jugendfrei in Richtung „völlig bekloppt, total verblödet“ zusammenfassen lassen, im Original aber dazu geführt hätten, dass unser Gespäch niemals gesendet werden könnte (in Russland gibt es ein striktes Verbot, auch nur ansatzweise den überaus reichen Schatz an Schimpfworten zu senden). Es ist nämlich so: Russisch ist in Russland (Überraschung, Überraschung) Amtssprache, daher können staatliche Dokumente (also auch Heiratsurkunden) nur (und zwar ausschließlich) auf Russisch abgefasst werden, das Ansinnen aus Krasnoyarsk, einen lateinischen Zusatz einzufügen war mithin gesetzeswidrig. Außerdem, so die gute Frau aus dem Moskauer Standesamt, gehe doch aus der notariellen Übersetzung meines Passes eindeutig hervor, dass Svetlana meinen Namen angenommen habe und hier sei es doch logisch und in Moskau übrigends geltende Praxis, die lateinische Schreibweise aus dem Pass des Ehepartners zu verwenden. Das Gleiche bekam ich in der Moskauer Meldestelle, in der ich mich zur Sicherheit auch erkundigte, bestätigt, wiederum begleitet von äußerst anschaulichen Einschätzungen des Geisteszustandes der krasnoyarsker Kolleginnen.

Mit den neuen Erkenntnissen gewappnet kontaktierten wir also wieder die Passbehörde in Svetlanas Heimatstadt und baten nochmals darum, die Schreibweise zu vereinheitlichen und wiesen auf die – um die persönlichen Kommentare bereinigten – Stellungnahmen der Moskauer Organe hin. Reaktion: Ratlosigkeit, Nachdenken, Hilflosigkeit. In den Vorschriften findet sich bei für derartige Fälle nichts. In solche einer Situation sind russische Bürokraten (besonders in der Provinz) total aufgeschmissen, da Erfahrung, Phantasie und Zivilcourage fehlen, auch nur ansatzweise auf eigenes Ermessen hin zu handeln.

Doch plötzlich der rettende Geistesblitz: einen Vorgesetzten anrufen, soll der doch entscheiden! Also nach einigem Zögern – darf man den guten Mann mit der Angelegenheit überhaupt belästigen, schließlich ist er Oberst der Polizei – zum Telefon gegriffen und angerufen. War aber keine so gute Idee, was kann man schon von einem Polizeibürohengst in der (noch reichlich sowjetisch geprägten) Provinz erwarten? Die entsprechenden Kader sind ja auch bei uns nicht unbedingt die hellsten und flexibelsten. Erst hat er das Problem nicht verstanden, sich dann darüber aufgeregt, dass eine Frau, die in Krasnoyarsk gemeldet ist, überhaupt in Moskau heiraten konnte, noch dazu einen Ausländer, man musste ihm ersteinmal erklären, dass hier alles rechtens war – und am Ende hieß es: „ Ich habe nur Vorschriften für russische Familiennamen und da der Name in der Heiratsurkunde auf Russisch geschrieben ist, ist es ein Russischer Name. Ende der Debatte!“ Damit war für Svetas Familie die Sache hoffnungslos und beerdigt, zumal die Damen, die für die Passvergabe verantwortlich sind, auch die Passierscheine für die geschlossene Stadt, in der Svetlanas Eltern wohnen, ausstellen, mithin man sich mit denen gutstellen muss, sonst bekommt man keinen einzigen Besucher in das Sperrgebiet.

Das Problem ist nun aber folgendes: Da sich die Schreibweisen meines „Siewert“ und Svetlanas „Zivert“ in drei Zeichen unterscheiden, bei der Übersetzung unserer Heiratsurkunde der Familienname aber wie bei mir im Pass übersetzt, bzw. geschrieben wird, gilt Svetlanas Name nach deutschem Gesetz als ein anderer als der in unserer Heiratsurkunde angegebene. Damit erkennen die deutschen Behörden unsere Eheschließung nicht an, heißt es im Dokument doch „gemeinsamer Familienname“ und Svetlana hat nach Gesetzeslage einen anderen als ich (ich hoffe, alle konnten folgen). Die deutsche Botschaft in Moskau kennt das Problem und macht daher bei der Visavergabe keine Schwierigkeiten (wer weiß was wird, wenn die Visaaffäre in Deutschland von der Opposition weiter hochgekocht wird, vielleicht gibt’s dann für uns auch von der Seite noch Überraschungen). Allerdings haben sie uns schon angekündigt, dass uns jede Ausländerbehörde in Dtl. daraus einen Strick drehen wird in der Art „die ist ja nicht ihre Frau, die heißt ja ganz anders“.

Angesichts dieser doch eher kafkaesken Situation boten sich die guten Frauen von Svetlanas Meldestelle an, die Schreibweise zu ändern, wenn wir ihnen eine Verodnung oder ähnliches nennen könnten, die das gestatte, auch um sich dem Vorgesetzten gegenüber abzusichern.

Ich also beim russischen Konsulat in Berlin angerufen, die müssten es eigentlich wissen, da sie ja dauernd Pässe für in Deutschland heiratende Russen ausstellen. Gedacht, getan. Die waren auch sehr freundlich, meinten, sie würden die lateinische Schreibweise des nicht-russischen Ehepartners übernehmen, was doch logisch sei, wie könne man sonst beweisen verheiratet zu sein. Als ich fragte aufgrund welchen Gesetzes oder welcher Verordnung, kam als Antwort: „ist doch logisch“. Ich also nochmal die Situation erklärt, worauf die dann, nachdem ich auch hier wieder deutliche und farbenprächtige Kommentare zum angenommenen Geisteszustand der Bürokratie in Krasnoyarsk zu hören bekam, anboten: „Okay, wenn ihr beide das nächste mal in Berlin seid, bringt den Reisepass mit und wir schreiben deiner Frau unter der Rubrik des Familiennamens eine Zusatzzeile rein: ‚in German speaking countries: Siewert’, das dürfen wir nämlich.“ Zwar hat ein Kumpel von mir angeboten, über seinen Vater, der ein einflussreiches Tier bei einer staatlichen Rüstungsfirma ist, das Problem informell zu lösen, aber da warten wir schon seit sechs Monaten auf Neuigkeiten. Svetlana wird also wohl bis zu unserem nächsten gemeinsamen Berlinbesuch Zivert heißen.

Vor einigen Wochen habe ich mich einer zutiefst russischen Tätigkeit hingegeben: Eisangeln. Okay, ich weiß, in Deutschland wird das auch betrieben, aber in Russland ist es ein Massenphänomen. Sobald das Eis trägt, schwärmen hunderte von Männern auf die Seen und Flüsse aus, um dann stundenlang mit einer Schnur in der Hand auf Holzkisten zu sitzen und angestrengt oder stumpf auf ein kreisrundes Loch zu starren, nur unterbrochen vom Schluck aus dem mitgeführten Flachmann oder der Thermoskanne. Sobald es im Frühjahr wärmer wird, geraten diese Spezies dann zu Dutzenden in die Zwickmühle, wenn sich das Eis auf dem sie sitzen als Eisscholle abspaltet und in die risegen Seen oder mit dem Fluss davonschwimmt. Das führt dann immer zu dramatischen Hubschrauberrettungseinsätzen.
Ganz so wild hab ich es natürlich nicht getrieben. Ein Freund rief mich an, ob ich nicht Lust hätte, mitzukommen. Nachdem ich begeistert zugesagt hatte, rückte er einen Tag später mit den unguten Details heraus: Treffen um 5.00 morgens bei ihm, was für mich bedeutete, um 3.30 aufzustehen, um zu dieser wahrhaft barbarischen Zeit bei -15 Grad und Schneegestöber irgendwie ein Auto anzuhalten und einmal quer durch Moskau zu gondeln – und das Sonnabend früh. Als sich später herausstellte, dass wir in den Nordwesten Moskaus fahren, wir also fast an meiner Heimat-U-Bahnstation vorbeifuhren, überkam mich das Verlangen, ihn zu würgen – ausdauernd und heftig. Allerdings hinderten mich meine Müdigkeit und die Eiseskälte im Auto daran, eine auch nur irgendgeartete Bewegung zu machen und ihm eine adäquate Behandlung angedeihen zu lassen.

Als wir an der Angelstelle ankamen, stellte sich heraus, dass die Zufahrt zum Gewässer geschlossen war und erst in einer Stunde geöffnet wurde. Also noch eine Stunde in einem engen und eiskalten Wagen sitzen. Da ich schon auf der Fahrt eingeschlafen und dementsprechend tranig war, verzichtete ich auf jeden Kommentar zu der Tatsache, dass man ja auch entsprechend später aufstehen, mithin also doch etwas mehr hätte ausschlafen können. Außerdem war ich an dem Tag irgendwie „anglerhaft-gelassen“ gestimmt.

Sobald wir aufs Eis durften, ging es ordentlich zur Sache: Wo der gemeine Eisangler zwei Löcher ins Eis bohrt und diese mit Angeln bestückt, auf die er nun für mehrere Stunden mehr oder minder intensiv starren wird, gingen der Kumpel meines Freundes und sein Sohn weitaus massiver zur Sache, wobei Misha und ich die HiWis für die anstrengende Bohrarbeit machen durften. Wir perforierten das Eis auf einer Breite von ca. 30 Metern mit einer Unzahl von Löchern (allein ich hab so an die 25 gebohrt), die alle mit jeweils einer Angelfalle „scharf gemacht“ wurden, die bei „Biss“ ein Fähnchen aufschnellen ließen. So schlugen wir gewissermaßen einen „Todesstreifen“ quer über den See. Während mir die Überwachung eines Teils dieses Killing Fields Übertragen wurde, versuchte sich Misha beim Stör-Fangen. Einmal, weil die Viecher richtig gut schmecken, andererseits, weil man damit dann auch mächtig angeben kann – und das ist ja auch sehr wichtig. Es tat sich aber rein gar nichts. Weder bei uns, noch bei den anderen Anglern mit ihren jeweils zwei Löchern. Misha zog maulig über den See und glich bald mehr einem Holzwurm als einem Angler, da er ständig neue Löcher bohrte in der Hoffnung eine bessere Stelle zu finden. Die beiden anderen Mitglieder unseres Kommandos wurden auch immer unruhiger, zumal in unserer direkten Nachbarschaft die ersten Fänge vermeldet wurden.

Erstaunlicherweise ließ mich das alles kalt. Ich fand’s prima dazusitzen. Frische Luft, Natur und Ruhe. Endlich mal nicht das ständige Klingeln des Telefons, die Probleme von über 14 Mitarbeitern und der ganze andere Arbeitsstress. Auch nicht das stumpfe Dämmern auf der Couch nach einer durchzechten Freitagnacht sondern Ruhe, Stille und seit Wochen die erste Gelegenheit, seinen Gedanken nachzuhängen und diese zu ordnen. Das nämlich kommt bei meinem momentanen, fast ausschließlich von der Arbeit beherrschten Lebenswandel zu kurz. Es ist ein solcher Genuss, wenn die Abwesenheit schriller äußerer Reize eine völlige Leere im Kopf verursacht, in die hinein dann aber nach und nach Gedanken auftauchen, die sonst vom Alltagsstress überdeckt oder verdrängt werden. Wenn das Gedachte nicht im Schnelltempo bearbeitet, verarbeitet und in irgendwelche Entscheidungen gepresst werden muss, sondern um seiner selbst willen „von allen Seiten her bedacht“ werden kann, so ähnlich wie ein Kunstgegenstand von allen Seiten betrachtet wird. Nachdenken und Tagträumen als Selbstzweck und gleichsam als Galleriebesuch im eigenen Kopf, mit den eigenen Gedanken als Exponaten. Dabei stellt sich als Nebeneffekt die Rückkehr der Sensibilisierung für Dinge ein, die im Leben eines „erfolgreichen Großstadtmenschen“ kaum Platz haben, weshalb die entsprechende Wahrnehmungsfähigkeit allmählich zu verkümmern droht: das Rufen der Vögel, der Geruch des Waldes, Stille untermalt von den Geräuschen des Windes… Au Sch…e, klingt ja fast wie Hippie-Gelaber. Wie auch immer, ich hab bei der ganze Veranstaltung einen derartigen Spaß gehabt, dass ich, als die Russen, von meiner augenscheinlich stoischen Ruhe (tatsächlich war es eher völlige geistige Erschöpfungsapathie) schwer beeindruckt, mir anboten, im Sommer mit ihnen ofters Angeln zu fahren, sofort zusagte.

Dass ich um diese Zeit allerdings schon recht fröhlich war, da ich mit Misha schon ordentlich dem Glühwein zugesprochen hatten, war da schon nicht mehr wichtig. Dazu war es folgendermaßen gekommen: Auf seiner Suche nach dem perfekten Stör-Angelplatz war Misha in einen Bereich des Sees geraten, auf dem einige ältere, sichtlich wohlhabende Herren neben ihren Angellöchern Tische aufgebaut hatten, die mit allen möglichen Leckereien und kräftigen Getränken beladen waren. Man stand um diese Tische herum, trank und plauderte, und ab und zu ging mal einer mehr oder minder motiviert zu seinem Eisloch und zuckelte etwas an seiner Angel. Mit der Methode holte sie einen Stör nach dem anderen hoch, während unser Stör-Jäger trotz stundenlanger Bemühungen nicht mal ein Zuckeln am Haken melden konnte. Misha, schon grün-blau vor Neid und Ärger, bohrte sich ein Loch keine zehn Meter von den guten Männern. Innerhalb von zehn Minuten musste er fassungslos mitansehen, wie neben ihm vier, wenn auch nicht sehr große, Exemplare mal so nebenbei gefangen wurden, derweil sich bei ihm nun sowas von absolut gar nichts tat. Nach diesem Trauma hat er mir erst meinen ganzen Flachmann leergetrunken und dann in einem nahegelegenen Cafe fur uns beide einen Liter Glühwein in der Thermoskanne bestellt. Als Freund konnte ich ihn in dieser schweren Stunde natürlich nicht alleine lassen und habe mich widerwillig geopfert, einmal, um ihm Gesellschaft zu leisten, außerdem, um zu verhindern, dass seine Leber mit dem ganzen Alkohol alleine klarkommen musste.

Gegen 17.00 haben wir unseren Todesstreifen abgebaut und sind nach Hause gefahren, ich glücklich über den wunderschönen, ruhigen Tag, die Mitstreiter eher etwas genickt wegen des geringen Erfolges – wir hatten nur eine 3-Kilo-Forelle gefangen, die gleich an Ort und Stelle geräuchert und gemeinsam verspeist wurde. Sehr schmackhaft.

Fazit: Meine Russifizierung schreitet voran, jedes zweite Wochenende in die Sauna, Trinken nur mit Häppchen dazu – und nun also der Drang zum Angeln.

Ach ja, da gibt’s noch eine dufte Story von meiner Dienstreise nach Brüssel im Oktober: Meine erste Dienstreise für die GfK, also wollte ich alles ganz pima und fehlerlos machen. Mein Flug sollte um 16.30 gehen, daher um 14.30 am Flughafen sein. Hat auch gut geklappt, ich war pünktlich da und wollte noch schnell einen Kaffee trinken, bevor ich mich in die endlose Zoll-Eincheck-Passkontroll-Nerverei begab. Vorab noch schnell ein Blick zur Anzeigetafel, wohin ich dann müsse. Da war mein Flug aber nicht zu finden. Eine böse Ahnung beschlich mich: es gibt in Moskau zwei Auslandsflughäfen (Sheremetevo II und Domodedovo), der eine im Norden der Stadt, der andere, 120km entfernt, im Süden. Und genau in letzterem, Domodedovo, hätte ich, wie ein genauer(!) Blick auf mein Ticket bestätigte, in eben diesem Moment sein sollen. Es ist schon erstaunlich, wie stereotype Redewendungen manchmal exakt die Realität beschreiben. Wort für Wort. Mir wurde in diesem Augenblick gleichzeitig heiß und kalt, mit temperaturmäßig passendem Schweissausbruch und weichen Knien. Dann auf einmal völlige Ruhe in mir (naja, okay, nicht völlige, aber doch weitgehende): in zwei Stunden geht Dein Flug, Du hast 120 km zu überwinden – und um dich herum nur halbmafiose Taxifahrer, die dir für die Tour einen Monatslohn abnehmen. „Was tun?“ (die Frage, die, wegen des Titels einer seiner Streitschriften, fälschlicherweise immer Lenin zugeschrieben wird, aber von Chenyshevskij stammt). Ich also mein Taxi, das schon seit 10 Minuten auf dem Heimweg war, angerufen und zurückbeordert.
Breit grinsend kam die Taxifahrerin an. Das Grinsen schwand aber rasch aus ihrem Gesicht, als ich ihr erzählte, dass wir es in 1,5 Stunden zum südlichen Flughafen schaffen müssten. Sie also Vollgas gegeben (bei ihrem alten Volga ca. 100kmh), während ich über tausend Umwege via Reisebüro, Central Office usw. den Abfertigungsschalter vo Brussel Airlines am Flughafen Domodedovo anrief. Dort versicherten Sie dann, dass ich, da ohne Handgepäck, es auch noch schaffen würde, wenn ich zehn Minuten vor Abflug da sei, was mich dann doch etwas beruhigte. Fünf Minuten später kam dann allerdings von der Fahrerin die Nachricht, dass mit der Lichtmaschine des Wagens etwas nicht stimme und sich die Batterie entlehre, wir es aber wahrscheinlich bis zum Fluhafen schaffen könnten.

Während ich noch grübelte, was besser sei, in völlige Apathie oder hysterische Panik zu verfallen, gab es ein „rums“-Geräusch gefolgt vom Kommentar der Fahrerin: „O-ha! Klang nicht gut!“ Derweil sie das sagte, sahen wir vor uns schon die Rücklichter eines Staus, bei dem sich gar nichts mehr bewegte (und noch 50 Minuten bis deadline). Das unfreiwillige Stehen wurde genutzt zu sehen, was denn da gerumst hatte. Wie sich zeigte, hatte sich ein Teil gelöst, das die Verselbständigung des Keilriemens verhindern sollte. Dieser hing nun komplett locker in seiner Position und die Lichtmaschine lud die Batterie nun gar nicht mehr auf. Bei der Feststellung „also zum Flughafen schaffen wir’s nun beim besten Willen nicht mehr“ entschied ich mich dann doch für Apathie, da mir einfach die Kraft für eine derartig anhaltende und immer neu genährte Hysterie fehlte.

Über Funk wurde ein Ersatztaxi zu einem bestimmten Treffpunkt bestellt, als wir zum zweiten mal in einen Stau gerieten. Die Elektrik des Taxis begann schon, teilweise den Dienst zu quittieren; so blieben die Blinker aus, was bei jedem Spurwechsel zu abenteuerlichen Situationen führte. Noch 25 Minuten bis Deadline. Ich begann schon, mir Ausreden auszudenken, um mich vor der Chefetage für den verpassten Flug zu rechtfertigen. Besonders peinlich war, dass mir unsere Buchhaltung drei Tage vorher erzählt hatte, wie Ähnliches unserem Finanzdirektor passierte – und ich hatte noch hämisch grinsend launige Kommentare dazu abgegeben.

Mit schon stotterndem Motor rollten wir 10 Minuten vor deadline am Treffpunkt ein. Der Fahrerin ein fürstliches Trinkgeld geben (sie hatte wahrhaft unmögliches vollbracht) und umsteigen war in der Rekordzeit von unter einer Minute geschafft, dann weiter mit 150 kmh über Nebenstraßen zum Flughafen. Schon das Flughafengebäude im Blick , mit noch fünf Minuten Fahrzeit lief meine Frist ab. Ich noch mal bei der Fluggesellschaft angerufen. Die schon ganz aufgelöst: „Junge, wo bist du? Wir müssen fliegen. Wenn Du in drei Minuten nicht hier bist, war’s das.“ Ich: „Gebt mir fünf Minuten, wir fahren gerade auf den Flughafenparkplatz“. „Fünf Minuten geht nicht, sei in vier hier. Schalte nicht das Handy aus, ich sag dir jetzt, wo du hinmusst, damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren.“ Ich also mit Handy am Ohr den Fahrer bezahlt und dann ferngesteuert („siehst du den mittleren Eingang? Gut, da jetzt rein, dann nach links, fünfzig Meter, wieder nach links und, ah ja, huhu, hier sind wir“) zum Schalter. War wirklich allerhöchste Zeit, der Flug sollte in fünf Minuten gehen.

Als sie dann bei der Personenkontrolle noch darauf bestanden, dass ich nicht nur Mantel und Jackett sondern auch noch Gürtel und Schuhe ausziehen sollte, nagte kurz der Gedanke an mir, ob eine kurze aber heftige Hysterie nicht vielleicht doch angemessen sei; da sagte schon die mich begleitende Angestellte von Brussel Airlines: „Nur keine Panik, ich muss das boarding starten – und da wir eh schon zu spät sind macht’s nun auch nichts mehr. Ich warte auf sie“. Im Flugzeug habe ich dann auf die Taxifahrerin, auf die Mädels von Brussel Airlines, auf meine eigene Nervenstärke und zur Beruhigung eben jener Nerven eine größere Zahl Biere getrunken, die nach dem ganzen Stress eine erstaunliche Wirkung enfalteten. Jedenfalls sind mir Flug und Landung nur schemenhaft present, erst ab meinem Eintreffen mit der S-Bahn im Stadtzentrum von Brüssel ist die Erinnerung wieder klar (war eh egal, ich hatte den ganzen Tag frei).

Zu Brüssel nur so viel: die Stadt ist alt, schön (wenigstens im Zentrum, sonst hat sie eher was von einem Vorort von Celle) und veströmt eine eigenartige Mischung aus Weltläufigkeit (jeder der Einwohner spricht mindesten (!) zwei Sprachen, die meisten, die ich traf, sogar drei) und Spießigkeit (die sich in der belgischen Vorliebe für Bier, Pommes, Eiche rustikal und Spitzengardienen äußert).  Eigentlich ist es die perfekte Hauptstadt für Europa: Hier mischen sich jahundertelange Tradition (alter Stadtkern), Fortschritt (Symbol: Atomion), das Völkergemisch Europas und seiner früheren Kolonien und eine daraus resultierende natürliche Toleranz gepaart mit spießiger Enge (Engstirnigkeit) sowie die für Europa typische Fixierung auf sich selbst und die verschiedenen Partikularinteressen – die Stadt ist trotz allem, verglichen mit Berlin, Paris, London, Lissabon oder auch Hamburg oder Glasgow provinziell. Gleichzeitig neutralisieren sich (oder ergänzen sich) holländische (flämische) Strenge und französische (wallonische), naja, sagen wir mal, Lebensfreude. Auf seine Art Westeuropa im Kleinen.

Apropos Flughafen, eine gute Überleitung zu den noch ausstehenden Kurzgeschichten:

  • Als ich letzten November nach Wien musste, geriet ich mit dem Taxi in einen Stau, statt 30 Minuten brauchten wir 2,5 Stunden. An der Ausfallstraße zum Flughafen stehen traditionell die „Professionellen“ der unteren Preisklassen. Das System ist folgendes: Ein Mädchen steht sichtbar am Straßenrand, die Freier halten an, sie weist Ihnen den Weg zu einer Durchfahrt durch die, die Fahrban säumenden, Büsche und dort veranstalten dann fünf bis 40 Mädchen eine Fleischbeschau, bei der die Kundschaft nach Geschmack und Geldbeutel auswählt.
    An dem Tag war es aber so, dass die schiere Bewegunglosigkeit des Staus Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen und Familienväter, die zu IKEA oder in ihren Schrebergarten wollten, dazu brachte, nach rechts auzubrechen und sich den Weg über den Seitenstreifen und durchs Unterholz entlang der Fahrbahn zu bahnen und so eine unglaubliche Massen-Amateur-Ralley zu veranstalten, die die guten Mädels von allen Seiten umtoste. Fassungslos starrten sie auf die Fahrzeuge, die sie, sich den Weg durch Büsche, über Wiesen und durch Schlaglöcher nur mühsam aber gleichwohl rücksichtslos brechend, wie Slalomstangen umrasten oder immer wieder aufscheuchten. Sehr bizarr. Man stelle sich vor, die Nutten von der Strasse des 17. Juni versuchten, sich vor tausenden, sich als Ralleyfahrer gebärdenden und durch den Tiergarten rasenden, Schrebergärtnern in Sicherheit zu bringen, aber dabei gleichzeitig noch Kunden zu werben.
  • In Russland ist es so, dass durch weltweites Sylvester, orthodoxes Weihnachtsfest und Wochenenden die erste Januarhälfte praktisch kein Arbeitsleben stattfindet, wobei die paar Arbeitstage, die in der Zeit anfallen, entweder blaugemacht werden oder man sitzt verkatert auf Arbeit und hält dort mit den Kollegen den Pegel. Um diesen „wilden“ Ferien ein Ende zu bereiten, hat das Parlament Ende letzten Jahres beschlossen, ein paar Feiertage im Laufe des Jahres zu streichen, dafür aber die Zeit 1.1.-10.1. offiziell für arbeitsfrei zu erklären.
    Obwohl Putin sich schon für das Vorhaben ausgesprochen hatte, das Ergebnis der Parlamentsabstimmung zum Thema also schon klar war, musste trotzdem Meinungsvielfalt geheuchelt werden – und so kam es zu einer recht spaßigen Debatte zum Thema in der Duma, wobei folgender Redebeitrag einfach das schönste war: „Also, erst zwei Feiertage, dann Wochenende. Was machen die Leute da? Sie sitzten mit ihren Freunden zu Hause und trinken. Trinken viel. Dann kommen zwei, drei Arbeitstage, die angesichts des darauf folgenden langen Wochenendes keiner ernst nimmt, d.h. die Leute kommen im besten Fall schwerst verkatert zur Arbeit, sind unaufmerksam oder ‚entkatern’ (Anmerkung: es gibt im Russischen ein Wort für (be)trinken, um den Kater zu heilen – „pakhmelitsa“), sprich: sind meilenweit von einer auch nur irgendgearteten Arbeitsfähigkeit entfernt, verletzen sich in aller Seelenruhe bei der Arbeit oder auf dem Heimweg, das geht dann als Arbeitsunfall durch – und im Resultat fehlen sie noch länger und die Firma muss dafür auch noch bezahlen. Daher bin ich für die Einführung dieser Ferien.“ Auch wenn die Kommunisten daraufhin in entrüstetem Pathos von einer Beleidigung der Werktätigen posaunten, hat der gute Mann das Problem (wenn auch leicht verallgemeinernd) exakt beschrieben.
  • Die Tage bin ich bei Freunden versackt (es war schon so gegen 3.00 morgens), war also genötigt ein „Taxi“ anzuhalten. Ich geriet an einen Georgier, der das Klischee der Sorte Taxifahrer war, die Westdeutsche mit PC-Einstellung immer in Berlin getroffen haben wollen (und die ich als Berliner nicht ein einziges mal erlebt habe): geschwätzig bis zur Unerträglichkeit, dabei brunzdumm und mit Vorurteilen und einem glühendem Totschlag-Antikommunismus großzügig ausgestattet. Während also der Schwall seiner Rede auf mich niederging und ich mit Trunkenheit und der durch Feiern und den verbalen Dauerbeschuss des Fahrers verursachten Übelkeit kämpfte, drang auf einmal folgender, unvergleichliche Satz an mein Ohr: „Dass Hitler die Kommunisten hat alle erschießen lassen, war richtig, Gott gebe ihm Gesundheit, aber dass so viele andere Menschen umgebracht hat, war schlimm. Wahrscheinlich war er Nazist oder so’was.“ Hitler ein Nazist (Russisch für Nazi)? Tja, ein solcher wird er wohl gewesen sein…
  • Ein Schmankerl für die Freunde des Hardcore: der Titelsong der ersten Dog eat Dog Platte (bevor sie in die Popkompatibilität abglitten) wurde hier für den Werbetrailer einer heimischen Vorabend-Spionage-Serie verwendet. Reichlich erstaunlich für ein Land in dem alles außer Schweinemetal und Modern-Talking-Geheule in den Medien totaler Ächtung anheimfällt.
  • Ein anderes, weithaus weniger angenehmes Thema ist die schleichend zunehmende, staatliche betriebene Xenophobisierung der Gesellschaft. Langsam meine ich zu begreifen, wie sich die deutsche Bevölkerung vor dem I.WK gefühlt haben muss: Ständig wird den Leuten hier von staatlichen Stellen und Massenmedien eingeredet, dass Russland das beste Land der Welt sei, mit den klügsten Wissenschaftlern, den findigsten Erfindern und einer Industrie, die gerade in den Bereichen Rüstung und Medizin reihenweise Entwicklungen hervorbringe, mit denen „der Westen“ nicht mal anseatzweise mithalten könne. Der Erfolg dieser Neuheiten werde lediglich durch die Machenschaften des Auslandes und die Gutmütigkeit und Gutgläubigkeit Russlands vereitelt. Gleichzeitig arbeite das Ausland and Vernichtung Russlands als zusammenhängendes Staatsgebilde.
    Der Gipfel war, als aus der Umgebung des Präsidenten nach dem Terroranschlag in Beslan verbreitet wurde, Menschenrechtler und Lieberale auf der einen Seite und Tschetschenische Terroristen auf der anderen Seite seien zwei Taktiken innerhalb einer Strategie des „Westens“ um Russland zu vernichten.
    Immer wieder trifft man Menschen, die mit dem Hinweis auf Kontakte zum Geheimdienst erzählen (über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch gesteuerte Gerüchte habe ich ja schon vor zwei Jahren geschrieben), es gebe im Westen eindeutige Pläne zur Aufteilung Russlands. Russland dagegen sei ein friedliches Land, dass nur seine berechtigten Interessen vertrete und seine Souveränitaet verteidige. Wobei die Regierung, und leider auch immer mehr Russen „auf der Straße“, Souveränitaet als das Recht, bzw. als eine Machtposition verstehen, die es dem Land erlaubt, jedwede internationalen Regeln und Vereinbarungen zu missachten. Aus dieser Logik heraus gelten hier vielen die USA als einzies souveränes Land – gruseliges Gedankengut! In jedem Fall wird hier systematisch eine Stimmung erzeugt, in der das Land sich als gutmütiges Opfer einer neidischen, feindlichen Umwelt sieht, die planvoll an der Einkreisung und Vernichtung des Landes arbeite.
    Darüber hinaus werden Ausländer in den Medien, besonders im Fernsehen, fast durchweg negativ oder den Russen unterlegen und deshalb diesen gegenüber missgünstig dargestellt. Eine entsprechende Gesetzgebung tut ein übriges, um aus jedem Ausländer ein verdächtiges, potentiell schädliches Subjekt zu machen. Die neueste Erfahrung damit war die Tatsache, dass ich letztens auf Arbeit zum Finanzdirektor gerufen wurde, wo ein Polizist saß, der mich einem Kreuzverhör unterzog, was ich denn in Russland treibe, und dann lang und ausdauernd alle meine Dokumente überprüfte, wobei er von der Gesetzeslage offensichtlich keinen blassen Schimmer hatte, sondern nur Einschüchterung betrieb. Als Grund gab er an, die Überprüfung aller ausländischen Arbeitskräfte sei eine Maßnahme zur Terrorabwehr. Als er mit mir durch war, wurde mein weissrussischer Chef zum Verhör gerufen.
    Mal abgesehen davon, dass sich Tschetschenische Terroristen wohl kaum in einer westlichen Firma als hochqualifiziertes Personal legal verdingen würden, ist es schon derb, dass von Staatsseite ausnahmslos alle (!) Ausländer als potentielle Terroristen betrachtet werden. Alles dies trägt dazu bei, Vorurteile gegenüber allem nicht-russischem zu schüren und eine aggressive Wagenburgmentalität zu schaffen. Mir wird reichlich mulmig, wenn ich daran denke, was die logische Konsquenz dieser Politik ist. In diesem Zusammenhang auch mein oben erwähnter Verweis auf Deutschland  im Sommer 1914.
  • Im weitesten Sinne zu diesem Thema, d.h. „Verteidigung“ Russlands gegen die feindliche Umwelt, passt auch ein Aufkleber, den ich letztens in der S-Bahn sah: ein mit einem Schwert bewaffneter Skinhead blick finster-dümmlich (anscheinend die Faschovorstellung von entschlossen) auf den Betrachter, darunter der Schriftzug in großen Lettern: „Tod den Terroristen!“ Die Ausgeburt einer Politik, die es jedem rassischtischem Denunziaten (es wird auf großen Werbeplakaten ganz offen zur Denunziation aufgerufen) und Schläger erlaubt, sich als legitimer Verteidiger von Heim und Herd und Witwen und Waisen zu fühlen. Die Folge sind fast täglich stattfindende, tödlich endende rassischtische Übergriffe, denen die Polizei mehr oder minder desinteressiert sympatisierend gegenübersteht.
  • Nun doch noch mal etwas erbauliches: wie schon erwähnt, muss sich in Russland jeder Ausländer innerhalb von drei Arbeitstagen nach seiner Ankunft registrieren lassen. Dafür braucht man u.a. eine Erklärung des Vermieters mit vom Einwohnermeldeamt beglaubigter Unterschrift desselben, dass er mit der Registrierung einverstanden ist. Beim letzten mal ich also die Erklärung besorgt, allerdings hatte die Unterschrift eine Behördenangestellte beglaubigt, deren Unterschrift die Registrierungsstelle wiederum nicht annerkennen wollte; deren Vorschriften ändern sich fast täglich und werden natürlich nirgends bekanntgegeben – man könnte sich ja entsprechend verhalten und sie hätten keinen Vorwandt mehr, den Registrierwilligen mehrmals über die Flure der verschiedensten Ämter zu treiben.
    Wie dem auch sei, ich musste die Erklärung noch mal neu machen. Inzwischen war aber meine die Bekannte, bei der ich offiziell wohnte, nach Ägypten geflogen, was mich jeglicher Chancen beraubte, die vorgeschriebene Registrierungspflicht einzuhalten. Als ich das Problem auf dem Einwohnermeldeamt vortrug, entschied die dortige Leiterin, die die Unterschrift hätte beglaubigen müssen, dass Sie das nicht könne, da sie ja nicht wisse wehr unterschrieben habe, allerdings könne ja die Frau, die die erste Beglaubigung durchgeführt hatte diesmal als Stellvertretende Amtsleiterin unterschreiben (was gegangen wäre). Auf meinen Hinweis hin, es sei aber niemand zum Unterzeichnen da weil in Ägypten, hieß es trocken: „Die hat ja gesehen, dass die richtige Person unterschrieben hat, also machst du jetzt die Unterschrift nach und sie beglaubigt das“. Gesagt getan – und alles ging problemlos durch. Bürokratenkreativität!
    Dazu gibt es hierzulande eine sehr schöne Redensart: „Fast alles ist verboten, aber wenn man etwas ganz, ganz doll will, dann geht es trotzdem“. Eigentlich ganz nette Einstellung, wobei weniger Verbote und weniger Beziehungsgemauschel dem Funktionieren einer Gesellschaft zuträglicher wären…
  • Man mag es kaum glauben, aber es gibt in Moskau wirklich Blumenfälscher. Eine bestimmte Blume (welche weiß ich nicht, ich habs ja nicht so mit der Botanik) ist Anfang März (Frauentag) in ihrer dunkelvioletten Variante eine echte Rarität. Findige Geschäftsleute kaufen nun zum richtigen Zeitpunkt haufenweise die vulgäre weisse variante und stellen die Dinger in gefärbtes Wasser. Nach zwei-drei Tagen sind die Blümchen dann schön dunkelviolett und lassen sich sündhaft teuer wie geschnitten Brot verkaufen.
  • Neuster Skandal: letztens wurde ein Polizist erschossen, die Täter sind noch nicht gefasst aber die Ermittlungen haben folgendes Bild ergeben: Zwei reichlich betankte Verkehrspolizisten hielten ein Auto an, um unter einem Vorwandt dem Fahrer 100,-$ „Strafe“ abzupressen. Da er nicht genug Geld dabei hatte, haben sie ihm Handschellen angelegt und sind mit zu ihm nach Hause gefahren. Dort wollten sie dann aber auf einmal 10.000,-$, was er natürlich nicht im Haus hatte. Er meinte jedoch, bei seinem Bruder liege eine entsprechende Summe. Also die ganze Reisegesellschaft wieder ins Auto, zum nächsten Kiosk, wo die Ordnungshüter noch schnell eine Flasch Vodka zum Pegelhalten mitnahmen und weiter. Dem Opfer gelang es aber an einer Ampel die Aufmerksamkeit einer Verkehrsstreife auf sich zu lenken. Als einer der Beamten auf das Auto zuging, wurde er ganz lässig von den Kollegen mit der Kalaschnikov perforiert, derweil das Entführungsopfer türmen konnte, sich später der Polizei stellte und alles erzählte. Von den Tätern fehlt bisher jede Spur.
  • Noch ‘was zum Thema: “deutsche Medien berichten Unfug über Russland”. Vor einiger Zeit las ich in einer deutschen Zeitung (FAZ oder Süddeutsche) einen Reisebericht über Sibirien, in dem es wieder hauptsächlich darum ging, die altbekannten Cliches von Trunksucht, Schlamperei, Verarmung und Hoffnungslosigkeit aufzuwärmen. Typisches Beispiel war die Beschreibung einer Kantine/Mensa (im Russischen gibt’s dafür nur ein Wort). Nicht ganz wörtlich aber so ähnlich hieß es da: „Bittere Armut und Mangel auch hier. Als Besteck gibt es lediglich Löffel und Gabeln aus Aluminium, Messer fehlen ganz“. Hätte der gute Schreiber sich auch nur eine Woche außerhalb des Ausländerghettos in Moskau aufgehalten, wüsste er, dass es in Russischen Mensen ein Tradition der letzten 80 Jahre, ja geradezu folkloristisches Lokalkolorit ist, dass man ein Messer nur auf Nachfrage erhält (und auch das nicht immer). Warum das so ist, weiß keiner, böse Zungen begaupten, damit sollten die miserablen Köche zu Sowjetzeiten vor der berechtigten Rache derjenigen geschützt werden, die den Fraß runterwürgen mussten. Messer gibt’s jedenfalls nur ganz selten unaufgefordert, was aber nicht in Armut oder Mangel wurzelt. Und dass das Besteck aus Aluminium ist hat damit zu tun, dass

a) noch riesige Bestände aus alten Tagen in den Mensen lagern, weshalb neues zu kaufen unsinnig wäre, zumal die dazu notwendigen Geldmittel nur über eine Erhöhung der äußerst niedrigen Preise für durchaus gutes Essen aufgebracht werden könnten – und Zweck dieser Mensen ist es eben, gut und billig zu kochen. Nur einige Moskauer „Nobelmensen“ oder Kantinen neu errichteter exklusiver Businesscenter haben anderes Besteck;

b) würde besseres Besteck nur dazu führen, dass sich die Besucher kostenlos den heimischen Bestand erneuern würden (Besucher der FU-Mensa in Berlin dürften das Phänomen, zumindest teilweise, kennen), was nun wiederum das Budget der Kantine ruinieren würde. Jedenfalls ist hier weder Mangel noch Armut im Spiel (so ’was mag in einigen Fällen vereinzelt eine Rolle spielen), allerdings ist es ja viel einfacher sich seinen Vorurteilen hinzugeben und die dann auch noch hochbezahlt von den Seiten einer deutschlandweit verkauften Tageszeitung in die Welt zu posaunen, nur weil die Kantinenleitung es versäumt hatte, für den Herren Korrespondenten in seinen Augen adäquates Esswerkzeug bereitzustellen und dieser entweder keine Ahnung von Russland hat, oder nicht interessiert daran ist, was im Lande wirklich geschieht, kurz in jedem Falle inkompetent ist. Und solche Leute prägen dann das Russlandbild in Deutschland. Peinlich!

Okay, ich merke gerade, ich bin schon wieder reichlich ausschweifend geworden, daher verschiebe ich meinen Bericht über Silvester in Karelien auf den nächsten Bericht. Bis dahin haltet mich auf dem laufenden über Euch,

Freundschaft,

Kai

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