Transsib (Herbst 2006) T. 4

Moskau Report Transsib (Herbst 2006) T. 4

Vladivostok, Russlands Tor zum Pazifik und nach Ostasien. Vadik hatte mir schon erzählt, die Stadt habe Ähnlichkeit mit San Francisco. Wenn er damit meinte, dass sie auf hügeligem Gelände am Pazifik liegt und viel Grün hat, stimmt das sicher. Damit ist dann aber auch schon Schluss mit den Gemeinsamkeiten und die Selbsteinschätzung der Stadtbewohner muss eher als provinzieller Größenwahn gesehen werden. Okay, Vladivostoks altes Stadtzentrum aus dem 19. Jhd., einige Gebäude aus der Stalinzeit und die Gegend um die alte Universität sind recht schön und erinnern manchmal tatsächlich sehr entfernt an einige Stellen in SF, zuweilen auch an ein Lichterfelde am Hang, was man vom Rest der Stadt nun wirklich nicht sagen kann: In Californien geben Architektur, Leute und das allgemeine Lebensgefühl der Stadt etwas Leichtes, Jugendliches. So eine Mischung aus Surfen, Alternativ-Musik, Uni, Erfindungsreichtum, Sonnenschein und rüstigem Rentnertum. Die Stadt strömt eine unbekümmerte lebensbejahende Energie aus. Wie anders dagegen Vladovostok. An einer engen langen Bucht, dem “Goldenen Horn”, gelegen, war sie von den Zaren als äußester Vorposten zur Kontrolle des Fernen Ostens Russlands gegründet worden (der Name bedeutet auf deutsch:”Beherrsche den Osten”). Erst nach dem zweiten Weltkrieg hatte sie ihren eigentlichen Wachstumsschub, was sich wiederum reichlich ungut auf das Stadtbild ausgewirkt hat weil so außerhalb des fast europäisch anmutenden Stadtzentrums neben einigen Stalinbauten die ästhetischen Gräul der Chruschev- und Breschnewzeit massiv dominieren. Direkt am Hafen erhebt sich ein zementenes Verbrechen – die Heimstatt der Gebietsverwaltung – welches einen bedauern lässt, dass Blenden, Vierteilen, Kreuzigen u.ä. im Umgang mit Architekten in Russland seit Ivan dem Schrecklichen außer Mode gekommen sind.

Weil das Territorium der Altstadt wenig Raum zur Ausdehnung bot, überzog die Stadt nach und nach die umliegenden Hügel und Berge mit den für die sozialistisch-sowjetische Architektur so charakteristischen Betonklötzen und –riegeln, bis das ganze Goldene Horn von der Stadt umschlossen und und die gesamte “Bay Area” mit mehr oder minder unappetietlichen architektonischen Gemeinheiten übersäht war. In den letzten Jahren kamen noch einige an prominenter Stelle gelegene “prestizhnye” Wohnsiedlungen für die Wohlhabenderen der Stadt hinzu, wobei die Gebäude nicht den Eindruck erwecken, als hätten sich die Bauherren auch nur ansatzweise bemüht, Ansehnliches zu errichten. Die meisten Bausünden werden gnädig vom tatsächlich reichlich vorhandenen Grün verdekt, doch sind gerade die sehr hoch gelegenen (viel hüher und eindrucksvoller als in SF) Hügelkuppen nur mir Gras bedeckt, was den dortigen Stadtteilen etwas vom Aussehen einer Mondstation gibt: Betonsilos auf kahlen Hügelkuppen um das Stahgerüst einer Antenne gruppiert. Die Straßen auf diesen Hügeln sind teilweise so steil, dass sie winters unbefahrbar sind: die Autos rutschen einfach wieder runter – und das bei vierspurigen Schnellstraßen.

Straßen und Gebäude sind überwiegend in einem Zustand, der ein weithin sichtbares Potential zur Verbesserung hat. Eine der wenigen Ausfallstraßen aus der Stadt ist schon seit Jahren von einem veritablen Quergraben durchzogen, was täglich kilometerlange Staus verursacht – die Fahrer sind gezwungen, auf einem schmalen Grasstreifen zwischen durchfurchter Fahrban und steil abfallender Böschung entlagzubalancieren -, aber nicht zu irgend wie gearteten Reparaturmaßnahmen geführt hat.

An einigen schönen Ecken haben sie in den letzten Jahren alles daran gesetzt, diese möglichst umfassend zu vernichten – und sind da auch noch stolz drauf: Vadik zeigte mir triumphierend eine Bucht mit dem Hinweis, hier hätten sie einen Yachthafen, der sich mit jedem beliebigen im Westen messen könne (dass viele Russen immer vergleichen und besser sein müssen und nichts einfach so für sich stehen lassen können; nerv!). Tatsächlich war es eine ursprünglich wunderschöne Bucht, von steilen bewaldeten Hängen eingeschlossen. Allerdings hatten sie das ganze Ding mit unsagbar hässlichen, meist nicht zu Ende gebauten Investitionsruinen verunstaltet, die vor sich hin rotteten und in etwa so einen ästhetischen Beitrag zur Szenerie lieferten, wie Pockennarben in einem an sich hübschen Gesicht. Abgerundet wurde das Ganze von lieblos in die Bucht gepflasterten Stahl- und Betonpiers, die richtig unerfreulich aussahen und auch schon zu rosten begannen. Mit anderen Worten: ein wunderschönes Stück Landschaft astrein versaut. Und sich damit auch noch brüsten, nur weil ein paar Yachten der örtlichen Halbwelt vor dieser Kulisse der Naturschändung auf den Wellen dahindümpeln.

Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass die Stadt vor die Hunde geht: der Gouverneur des föderalen Verwaltungsbezirks und der Bürgermeister der Stadt entstammen einer im Russischen sogenannten “kriminellen Struktur”, deren Weg mit Leichen wenn nicht übersäht so doch ausreichend garniert ist und die beste Beziehungen zu Putin persönlich pflegt. Ich weiß das, da unser Laden zusammen mit den Kollegen von Roland Berger ein Projekt für die gemacht hat, wobei uns der Kunde am Schluss gekonnt ueber den Tisch gezogen hat. In Zuge des Projektes haben Nachforschungen eines Berger-Consultants ergeben, dass fast alle im Projekt involvierten Führungspersonen der Kundenseite eine beeindruckende Vita jenseits von Recht und Gesetz hatten, inklusive charakteristischer Spitznamen. Außerdem wurde offenbar, dass die Jungs sich überall in Vladivostok und auch teilweise in Moskau quasi wie Feudalherren aus der Entourage des Königs benahmen (mit Privatwagen auf dem Rollfeld direkt vom Flugzeug abgeholt; rote Ampeln wurden ignoriert, anwesende Polizisten quittierten den Regelverstoss mit stummen Salutieren; Restaurants wurden nur für sie geöffnet; private Grillfeste mit Putin usw.). Als Resultat dieser Durchsetzung der Stadt- und Gebietsverwaltung mit reichlich zweifelhaften Gestalten fließen die ungeheuren Geldeinkünfte aus Fischfang, Hafen und Fernhandel nur zum geringsten Teil ins städtische Budget, aber dafür um so reichlicher in die Taschen aller möglicher zwielichtiger Zeitgenossen. Während die Stadt in ganz Russland für zusammenbrechende Energieversorgung und kalte Heizungen im Winter bekannt ist und die oertliche Infrastruktur langsam aber stetig zerbröselt, bauen sich die Reichen unglaubliche Paläste am Stadtrand, und einige Firmen expandieren massiv, wobei keiner so genau weiß, woher das Kapital dafür herkommt. Wie sehr all dies mit Wissen und wohl auch Billigung von ganz oben geschieht, wird daraus deutlich, dass mehrere Unternehmen, die bisher ihr Geld offiziell mit Fischfang und –verarbeitung verdient haben, nun mit Blick auf das Ende der putinschen Regierungszeit hektisch beginnen, zu diversifizieren, damit sie, wie sie selber zugeben, bei einem ihnen weniger geneigten Präsidenten ihr Portfolio weiter gestreut haben und so besser abgesichert gegen Angriffe und Strafverfolgung sind. Wo Mafia und Verwaltung derartig verwoben sind, kann schwerlich Gutes bei rauskommen.

Ein kleiner Einschub: während ich diese Zeilen hier schreibe, ist der Bürgermeister von Vladivostok wegen Korruption und Amtsvollmachtueberschreitung seines Amtes enthoben und verhaftet worden. Im Zuge dieser Affäre kam ans Licht, dass er, übrigends wegen seiner rundlichen Gesichtszüge und etwas tappsigen Art sich zu bewegen in den 90ern als Führungsperson einer Schutzgeldbande unter Spitznamen “Winnie Pooh” bekannt, sich anscheinend mit dem Gouverneur von Primore, der hinter diesem stehenden Gruppierung und dem Geheimdienstchef von Vladivostok angelegt hatte. Dabei hat er wohl den Bogen überspannt und damit die Ermittlungen gegen sich ausgelöst. Oder er dient als Bauernopfer, das von den eigentlich Schuldigen für die Situation in der Stadt ablenken soll. Jedenfalls war er nach Moskau gekommen, um sich in der Präsidialadministration und der mit dieser in engem Kontakt stehenden Generalstaatsanwaltschaft Unterstützung zu holen. An sich kein schlechter Schachzug, da Putin auch den korruptesten Provinzfürsten unterstützt, wenn er nur ja zu ihm hält. In diesem Falle hat Winnie Pooh es entweder wohl doch zu dreist getrieben, oder die die Fraktion innerhalb seiner Gang, mit der er sich befehdet, hat noch bessere Beziehungen zum Präsidenten (was auch daraus ersichtlich wird, dass die ihm zur Last gelegten konkreten Vergehen nichts mit seinen eigentlichen “Heldentaten” zu tun haben, recht banal und üblicherweise nicht ausreichend für eine Strafverfolgung wären: Missbrauch von Budgetgeldern für seine private Leibwache und Ferienreisen). Er wurde nach seiner Ankunft in Moskau sofort eingebuchtet und ins Untersuchungsgefängnis nach Vladivostok zurückgeschickt.

Auf jden Fall ist das Leben in der Stadt für den Durchschnittsbürger kein Zuckerschlecken. Gleichwohl sind die Leute unverdrossen, temperamentvoll und fest entschlossen zu leben, wobei ein ziemlich ruppiger Ton vorherrscht. Was sich auf den Fahrbahnen der Straßen abspielt, entzieht sich jeglicher Beschreibung. Jedenfalls ist der Verkehr in Moskau vergleichsweise kultiviert. Die reden in Fernost sogar fast doppelt so schnell wie im übrigen Russland. Die Atmosphaere in Vladivostok ist definitiv nicht so leicht und unbeschwert wie in SF, eher rauh proletarisch, sie hat aber etwas zutiefst Lebensfrohes und macht einem die Stadt durchaus sympathisch. Dabei sollte der Mitteleuropäer gewisse lokale Eigenarten als örtliche Folklore betrachten und besser unkommentiert lassen: Zeitweise warben die ausnahmslos illegalen Bordelle der Stadt im Fernsehen (!) damit, dass es beim Kauf von zwei Bier ein Mädchen umsonst dazu gebe – eine Welt mit eigenwilligen aber klaren Prioritäten. Eine Attraktion für das breitere Publikum ist die Strand-/Hafenpromenade, an der man für relativ wenig Geld frisch gefangene und gekochte Riesengarnelen und Bier erstehen kann. Auf der Promenadenmauer sitzend, mit Blick äber das Meer oder das Ausflugstreiben ringsum, lässt sich so hervorragend lungern, trinken, knabbern und der Zeit beim Verstreichen zuschauen. Und die eingeborene Bevölkerung macht das gerne und mit ansteckendem Enthusiasmus vor.

Alles dies wurde mir erst mit der Zeit bewusst. Zunächst hatte ich das Gefühl, in Ostasien zu sein. Nicht nur geographisch, denn da war ich ja tatsächlich, sondern kulturell, obwohl ich anfangs nur Russen zu Gesicht bekam: Am Bahnhof erwartete uns eine alte Freundin Vadiks, Svetlana, die uns zunächst zum Teetrinken zu sich brachte, bevor sie uns bei Vadiks Mutter abgab. Auf diesen zwei Autofahrten wurde ich ständig an Peking erinnert – überall die Betonschlafsilos, viele von denen in, naja, nicht dem besten Zustand, dazwischen oder darüber Viadukte oder breite Hauptverkehrsadern, auf denen so gut wie keine russischen Autos zu sehen waren. Die ganze Stadt fährt japanische und koreanische Gebrauchtwagen. Dabei werden bei Lieferwagen, Bussen etc. nicht die Aufschriften der Erstbesitzer erntfernt, was dem Straßenbild einen deutlich asiatischen Charakter verleit. (An alle Besserwisser: ich weiß, koreanische, chinesische und japanische Schriftzeichen unterscheiden sich. Ich rede hier nur vom ersten oberflächlichen Eindruck – und da sind solche Feinheiten nicht von Belang). Der Himmel war die ersten Tage entweder grau-braun-diesig bei gleichzeitig stechend heruntebrennender Sonne, oder es war leicht neblig mit plötzlich einsetzendem Platzregen, wobei grundsätzlich ein seltsam diffus gebrochenes Tageslicht alles irgendwie unwirklich erscheinen liess – wie ich es aus Peking kannte oder aus amerikanischen Filmen über den Vietnamkrieg. Beim Besuch eines Marktes kam ich mir dann komplett wie in Peking vor: Die Händler, die ihre Waren – zu etwa 80% Imitate westlicher Markenprodukte, der Rest Importierte fernöstliche Kurzwaren und Lebensmittel – in einem geradezu unüberschaubaren Gassengewühl aus Containern und Verschlägen anboten, waren fast alles Chinesen. Teile des Marktes waren sogar vollständig in asiatischer Hand, während die Kundschaft aus Russen bestand – genau wie auf den Pirateriemärkten in Peking.

Nach einem enttäuschenden Besuch eines Chinarestaurants empfahl uns ein Freund, den chinesischen “Kantienencontainer” eines der Märkte aufzusuchen, da dort für ein Spottgeld authentische chinesische Küche geboten werde. Gesagt, getan. Wir tauchten in eine sonderbare Welt ein: zwei Container, einer als Küche dienend, einer als Gastraum, verbunden nur durch ein reingeflextes Fenster, waren das Etablissement. Davon gab es ungefähr sechs oder sieben Stück nebeneinander. Gäste, Personal, Essen, Getränke, Umgangssprache – alles chinesisch. Per Augenschein ein Lokal gewählt und in Zeichensprache um die Speisekarte gebeten; Russisch konnte als einziger der Chef, und das auch nur sehr eingeschränkt. Nach einigem Suchen tauchten dann auch zwei in originellem Russisch gehaltene Karten auf. Wir wählten Speisen und Getränke (chinesisches Bier, sichtlich für den Binnenmarkt – rein chnesische Beschriftung -, also schwarz importiert) und erhielten nach kurzer Wartezeit riesige und wohlschmeckende Portionen. Derweil wir uns über das Essen hermachten, fiel uns auf, dass der Restaurantchef nebenher noch Herr über zwei Container mit importierten Lebensmitteln war, deren Verkäufer auch nur mit richtig gutem Willen als ansatzweise russischsprechend bezeichnet werden können. Dazu meinte Vadik annerkennend: “Die können kaum die Sprache, kommen her und bauen trotzden und ungeachtet der korrupten Behörden, die sie schröpfen, wo’s nur geht, respektable Geschäfte auf. Hut ab! Unsere (d.h. die Russen) würden das kaum wagen. Die sitzen eher rum und jammern.” Da ist durchaus etwas Wahres dran, auch wenn ironischerweise gerade Vadik seit Jahren zu Hause rumsitzt, von dem Geld lebt, das seine Frau verdient, und ständig klagt, wie schwer er es mit der Erziehung des (nebenbei bemerkt, einzigen und lammfrommen) Kindes habe. Tatsache ist, dass, während die meisten Russen ausführlich erklären können, warum etwas nicht klappt (darin uns Deutschen nicht unähnlich), machen die Chinesen erstmal – ein Mentalitätsunterschied, der sich auch in der volkswirtschaftlichen Entwicklung Russlands und Chinas widerspiegelt.

Die Chinesen, ein heiß diskutiertes und beliebtes Thema (nicht nur, aber besonders) in Vladivostok. Die Russen haben nämlich eine Heidenangst vor der schieren Masse der Chinesen, denen sie – wahrscheinlich nicht zu Unrecht – unterstellen, sich mittelfristig den russischen fernen Osten und Teile Sibiriens einverleiben zu wollen. Schon heute sind manche Gebiete Ostsibiriens nahe der chinesischen Grenze von hunderttausenden illegaler Chinesen bewohnt. Zuweilen fühlen sich nicht wenige Russen bereits als Fremde im eigenen Land, zumal “die Chinesen” “die Russen” an Rücksichtslosigkeit und Großkotzigkeit im Umgang mit anderen Kulturen noch übertreffen. Daneben gibt es gerade in Vladivostok ein Phänomen, an das ich mich auch erst gewöhnen musste: reiche chinesische Touristen, vor denen sich die russische Bevölkerung ähnlich ausmacht, wie afrikanische Einheimische neben den europäischen Besuchern eines Club Mediterrane. Durch 300 Jahre Kolonialismus, Kapitalismus und (Kultur-) Imperialismus haben wir uns an eine Beziehung mit der nicht-weissen Welt gewöhnt, in der weisse Menschen dank ihres Geldes diejenigen sind, die in fernen Ländern von exostisch aussehenden Eingeborenen beflissen bis unterwürfig bedient werden. Hier nun der umgekehrte Fall: Die Rolle des zahlenden und deshalb Ansprüche stellenden Gastes wird von reich gekleideten “Exoten” (sprich: Chinesen) besetzt, derweil das ärmliche Dienstpersonal weiss, d.h. russisch ist. Ein ungewohntes Bild, für die Russen, die sich als Träger europäischer Kultur in diesem Teil der Welt sehen, besonders bitter. Bisher ist es noch kein Massenphänomen, hat aber schon Ausmaße angenommen, die nicht zu übersehen sind. Auch in anderen “Tourismussegmenten”: Während der deutsche Angestellte oder Arbeiter in den Bumsbomber nach Bankog steigt, reist der besser betuchte Chinese mit der gleichen Absicht ins russisch-chinesische Grenzgebiet.

An diesen banalen Beispielen wird schon dem kurz verweilendem Gast deutlich, dass Russlands ferner Osten Gefahr läuft, im Verhältnis zu China zum Entwicklungsland mit der üblichen, daraus resultierenden Abhängigkeit zu werden. Die Bevölkerung sieht das auch und macht sich entsprechend Sorgen. In Moskau scheint das entspannter gesehen zu werden: die Region wird vernachlässigt und kriminellen Cliquen zur Ausplünderung überlassen (was ihre Entwicklung weiter hemmt). Die traditionell russlandfreundlichen Südkoreaner, die an massiven Investitionen in diesem Gebiet interessiert sind, werden durch eine nordkoreafreundliche Politik brüskiert, derweil die Chinesen, ungeachtet ihrer kaum noch zu übersehenden begehrlichen Blicke auf halb Sibirien, fast schon zum Brudervolk mutieren – Hauptsache ist, den Amis in die Suppe zu spucken. Wahrung nationaler Interessen unter Putin bedeutet in den letzten Jahren, gegen Amerika und den Westen zu sein und nicht das eigene Land voranzubringen. Doch ich ich schweife ab.

Zurück zum Thema, wobei das auch wieder mit der Verwahrlosung der Stadt zu tun hat. Bei Vadiks Mutter angekommen, wollten wir uns erstmal waschen. Gesagt, getan, nur mussten wir das warme Wasser auf dem Herd in Töpfen selbts erhitzen. An sich in Russland nichts ungewöhnliches, wird doch überall im Lande sommers die zentrale Heißwasserversorgung für drei Wochen abgestellt um die Leitungen zu reparieren. Vadiks Mutter hatte allerdings schon seit zwei Jahren (!) kein warmes Wasser mehr. Gründe dafür wurden von der Stadtverwaltung bisher nicht genannt. Es geht aber noch besser: Nach einem Tag am Strand sind wir zu Svetlana, um uns ihrer warmen (!) Dusche zu bedienen, uns von Sand, Salz und Sonnencreme zu reinigen. Wie ich also fröhlich unter dem wohlig angenehm temparierten Nass stehe und die letzten Seifereste abspühle, wird der Duschstrahl unversehends kochend heiß, mit Wasserdampf vermischt und lässt sich auch nicht abkühlen – aus beiden Hähnen kommt brühend heißes Wasser mit der in manchen russischen Regionen für Heißwasser charakteristischen leicht bräunlichen Färbung und einem etwas seltsamen Geruch, handelt es sich hierbei doch um Kühlwasser aus Kraftwerken. Laut geschimpft, dann gefreut, dass Seife und Shampoo schon runter waren und schließlich die Anderen informiert. Sveta meinte nur, das passiere dauernd. Manchmal gebe es auch kein warmes Wasser, ein anderes mal sei der Wasserdruck so gering, dass es aus der Leitung nur tröpfle, wobei der Druck innerhalb von wenigen Sekunden abfalle, so dass man eingeseift ohne Wasser in der Wanne stehe. Oder mit einem Hechtsprung die Waschmaschine abstellen müsse um sie vor dem Ruin zu bewahren. Und das gehe seit Jahren so, Reaktionen der Stadtverwaltung auf Beschwerden: Null.
Im Laufe des Tages erfuhr ich nun am eigenen Leibe, dass in Russland ein Leben nur mit Kaltwasser zwar lästig aber möglich ist. Man kann es zum Kochen und Teemachen nutzen – und wenn man sich waschen will, gibt man entweder den abgehärteten Helden oder stellt vorher einen Topf auf den Herd. Nur Heißwasser ist aber richtig Scheiße: Zum Kochen nicht zu verwenden, zum Teekochen auch nicht. Und Waschen wird extrem unerfreulich, da man das Wasser erstmal runterkühlen müsste und dann eine zweifelhafte Brühe im Bottich hat, die man sich pur zwecks Reinigung auch nicht über den mehr oder weniger gepflegten Körper gießen möchte. Waschen ist also gar nicht und Kochen nur mit im Geschäft gekauftem Trinkwasser. Vorbereiten auf die Situation geht auch nicht, da die “Originalitätsanfälle” in der Wasserversorgung willkürlich und daher völlig unberechenbar über einen hereinbrechen.
Im Winter werden dafür regelmäßig über Wochen die Heizungen aus Ölmangel abgestellt, so dass die Temperatur in den Gebäuden auf wenige Grad über Null fällt, die Leute im Pelz zu Hause sitzen und die Schule abgesagt wird. Und das in Russland, einem der größten Erdölexporteure der Welt. Die Kader, die die dafür Verantwortlichen kontrollieren, sitzen derweil mit Putin auf seiner Datscha und braten Schaschlyki zum Vodka.
Eine andere Absonderlichkeit ist, dass es so gut wie keinen Fisch in der Stadt, immerhin der größte und bedeutendste Fischreihafen des Landes, zu kaufen gibt. Das, was sich in den Geschäften findet, sieht bestenfalls bedauerlich aus und ist teurer als in Moskau. Der Grund ist angeblich, dass die Fänge entwedert gleich auf hoher See schwarz an die Japaner verkauft werden, oder wegen der höheren Margen sofort als Gefrierfisch nach Moskau, Petersburg und andere Großstädte gehen. Da die lokale Fischreiindustrie von einer Bande kontrolliert wird (die auch fast alle Fangquoten zugeschanzt bekommen hat), haben auf den heimischen Markt orientierte Fischer und Anbieter keine Chance. Um meiner Gattin den gewünschten frischen Lachskaviar (eine Spezialitaet des russischen fernen Ostens) zu besorgen, musste ich kurz vor dem Abflug den improvisierten Stand einer Oma auf dem Flughafenparkplatz frequentieren, die dort Wildereierzeugnisse verkaufte. Die einzige Möglichkeit, Qualität zu bekommen, in der Stadt selbst wird nur Dreck angeboten.

Wir sitzen mal wieder bei Svetlana in der Küche bei Tee und/oder Bier und plaudern. Es ist ein Uhr mittags und wir bereiten uns darauf vor, zum Strand zu fahren. Klingeln an der Wohnungstuer: Als Svetas Mann öffnet, steht da die Nachbarin, eine etwas infantile 18-jährige, völlig bleich und fragt mit zitternden Lippen und brüchiger Stimme, ob wir ihr schnell 1000,- Rubel leihen könnten. Eigentlich kein großer Betrag (60,- DM), für die dortigen Verhältnisse und gemessen am offiziellen Durchschnittseinkommen, das bei ca. 8000,- Rubel liegt, aber doch keine Kleinigkeit. Auf Svetlanas besorgte Nachfrage wozu sie das Geld brauche (das Mädel hat einen Freund mit großem Durst und selbst einen Hang zum Um-die-Häuser-Ziehen), kommt folgende unglaubliche Begebenheit ans Licht:
Die Nachbarin hatte am Vortag mit ihrem Freund und einigen Kumpels ihren Geburtstag gefeiert, war dann irgendwann müde und betrunken und hat sich Schlafen gelegt. Die anderen sind, weil sie noch nicht genug hatten, und um sie nicht zu stören, noch in die Kneipe. Nachts kam er reichlicht stramm nach hause und legte sich schlafen. Gegen 2.30 wachte sie auf, weil “irgendetwas nicht stimmte”. Der Geliebte neben ihr war kalt und atmete nicht mehr. Offensichtlich hatte er auf dem Rücken liegend im Schlaf gekotzt und war daran erstickt. Sie, nachdem sie den ersten Schock einigermaßen überwunden hatte, es war inzwischen ungefähr 3.00, bei der Polizei angerufen. Um 11.00 kamen die Jungs dann gemütlich vorbei – sie hatte die ganze Zeit alleine mit der Leiche in der Einzimmerwohnung gesessen – schauten sich die Sache an, bestätigten vorläufig die Todesursache, sperrten das halbe Zimmer zur Spurensicherung ab und machten sich auf den Heimweg. Als die verstötre Maid fragte, was denn nun mit dem Toten werde, bekam sie als Antwort, dass der so lange liegen bleibe, bis sie 1500,- Rubel zahle, schwarz natürlich. So lange bleibe auch das halbe Zimmer gesperrt, handle es sich doch um einen potentiellen Tatort. Selbst einen Leichentransport zu rufen habe sie kein Recht, das sei nur der Polizei gestattet, da diese die Leiche freigeben müsse. Als die nervlich völlig erledigte Nachbarin darauf hinwies, dass sie nach ihrer Geburtstagsfeier komplett pleite sei und bis Ende der Woche nur die Essens- und Getränkereste der Party am Vorabend habe, hieß es: “Interessiert uns nicht! Solange wir das Geld nicht haben, bleibt der Typ hier liegen und das Zimmer gesperrt.” Das Klima war feucht-heiss, am Tag um die 40 Grad, d.h. der Körper musste bald anfangen zu stinken, und die Wohnung in diesem Zustand unbewohnbar, die Nachbarin damit praktisch obdachlos. Darauf aufmerksam gemacht, zuckten die Gesetzeshüter nur mit den Achseln, “Nicht unser Problem” und verschwanden. Also blieb der Hinterbliebenen nichts anderes übrig, als bei den Nachbarn auf Betteltour zu gehen. So viel zum Thema Menschlichkeit und Feingefühl russischer Gesetzeshüter. Ist zwar ein etwas derbes Beispiel, hat aber durchaus exemplarischen Charakter. Svetlana hat die nötige Summe sofort vorgestreckt und das völlig fertige Kind zum übernachten zu sich geholt.

Wir sind dann aber doch noch zum Strand gefahren, was zu einer erstaunlichen Milieustudie werden sollte. Vladivostok hat zwei Ausflugssandstrände, einen dicht außerhalb der Stadt, auf dem sich eher prolliges Volk tummelt, und einen etwas weiter entfernten für das Gros der Bewohner. Wo Vadik uns, trotz Svetas Einwände, der andere Strand sei viel schöner, hingeschleift hat, ist unschwer zu erraten: Ins Prollbad.
Zunächst sah alles eigentlich ganz erfreulich aus. Eine weitgeschwungene Bucht mit Sandstrand vor einer Wiese, die als Parkplatz diente, eingefasst von bewaldeten Hängen, einige Villen direkt am Meer und zahlreiche Stände, an denen sich Getränke, Shashlyki und Knabberwerk erstehen ließen. So weit so scheinbar erfreulich. Je länger wir jedoch dort waren, desto mehr kam es mir vor, als sei ich in eine ins 21.Jhd gebeamte Zillezeichnung geraten: Oberhalb des Strandes, an einem der Hänge, verdeckt durch ein Waldstück und dichtes Unterholz, befand sich die riesige Schlackeabraumhalde eines nahegelegenen Kohlekraftwerkes. Verdächtig aus dieser Richtung ergoss sich ein kleines Bächlein in die Bucht. Dem Augenschein nach war es klar, doch möchte ich nicht wissen, was da an gelösten Unappetietlichkeiten drin war. Die von Ferne ganz nett aussehenden Villen erwiesen sich von nahem als fast abrissreife Betonklötze, die mit rostendem Maschen- und Stacheldraht gegen die Außenwelt abgeschirmt waren. Der Strand war nur dicht am Wasser sandig, größtenteils jedoch spitzkanntiger Kies, der jeden Schritt zu einer Übung aus der Fakirschule werden ließ. Außerdem war er mit Kronkorken, Plastikfetzen und Glassplittern nur so übersaeht. Selbst einige Spritzen fand ich. Die Badenden ringsum passten zu dieser Kulisse: Die Männer fast sämtlich in Detailhosen, die jüngeren meist reichlich aufgepumpt, die älteren eher fett, so gut wie alle mit vom Alkoholmissbrauch gezeichneten Visagen und Goldkettchen. Eine erstaunliche Ansammlung vernarbter Gestalten – dem Anschein nach Folgen von Schlägereien oder Messerstechereien –, deren allgemeine Agressivität (auch gegen Frau und Kind) sogar das übertraf, was ich von den einschlägigen Jungmännerbünden aus Kreuzberg und Neukölln kannte. Daneben fette oder bleich und rachitisch wirkende (in jeden Fall nicht gesund ernährte) Kinder, die mit großer Begeisterung in Sand und Unrat des Strandes buddelten oder in dem zweifelhaften, sich aus Richtung der Abraumhalde heranschlängelndem Rinnsal plantschten.
Das eigentliche Trauerspiel waren die Frauen: Viele waren früher sichtlich einmal durchaus gutaussehend und attraktiv gewesen, wenn auch eher aus der Kathegorie prolliger Schlampencharme, jetzt aber verlebt, mit von Nikotin, Alkohol, Sorgen, geplatzten Träumen und dem Zusammenleben mit den neben ihnen herummännernden Dummprolls verhärmten und grauen Gesichtern. Ihre Körper, teils in einem letzten Versuch, noch sexy zu wirken mit ordinär-aufreizenden, farblich schreienden Bikinis behängt, wirkten ausgebrannt, schlaff, wie ausgepresst oder, das andere Extrem, unförmig Fett, doch gleichfalls bar jeder Energie. Die ganze Veranstaltung ein optisches Lehrstück was Armut, Unbildung und Perspektivlosigkeit aus einer ganzen Gesellschaftsschicht machen können, wobei die herrschende Atmosphäre der Agressivität und des Angebertums kein Mitleid, sondern eher Widerwillen der ganzen Szenerie gegenüber, gemischt mit tiefer Traurigkeit aufkommen ließ. Gerettet hat den Nachmittag Sveta, die echt ein Schatz war, mit der man sich prima unterhalten konnte, was nun wiederum Vadik eifersuechtig machte und dazu trieb, sie in Dauerbeschlag zu nehmen. Auch gut, ich legte mich aufs Handtuch und bot meinen Körper den Sonnenstrahlen zur Erwärmung und Bräunung dar. Dabei schlief ich dummerweise ein, holte mir einen Sonnenbrand innen (!) an den Oberarmen, so dass ich die nächsten Tage einem Möchtegern-Body-Builder gleich nur mit abgewinkelten Armen laufen konnte, was reichlich Scherze in der Richtung provozierte, ob ich mir nicht einen Tschetschenen mieten wolle, der mit Pistole im Anschlag hinter mir herlaufe, damit ich einen der Allgemeinheit verständlichen Vorwand hätte, mit erhobenen Händen durch die Stadt zu laufen. Sehr witzig!

Bevor ich schliesslich nach Moskau zurückflog (Vadik blieb in VV um noch einige bürokratische Angelegenheiten zu erledigen), saßen wir am letzten Abend noch bei Vadiks Mutter in der Küche und veranstalteten ein Abschiedsessen. Dabei erzählte Muttern, eine übrigends sehr lässige Endfünfzigerin, Bauingeneurin, die trotz schwerer Herzprobleme eigenhändig ihre Wohung renoviert hat, und die sich ein Zubrot damit verdient, die Bücher einer Wohnungsgenossenschaft zu führen, weshalb sie sich auf ihre alten Tage noch erfolgreich mit Computer und Buchhaltungsprogrammen im Selbststudium vetraut gemacht hat, wie vor Jahren das Munitionsdepot neben ihrer Datscha explodiert ist. Die Explsionen waren so gewaltig, dass sie einen Großteil der Datschendächer einfach wegpusteten. Die Reste der Häuschen wurden dann ein Opfer des Raketen- und Geschosshagels, der aus den brennenden Trümmern des Depots niederging: einige Sprengkörper legten mehrere Kilometer zurück, bevor sie einschlugen. Wie durch ein Wunder kamen keine Personen zu schaden, auch wenn einigen die Projektile im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren flogen. Jedenfalls rannten und krabbelten ältere Mütterchen und Pensionäre zwischen den Einschlägen um ihr Leben, während betagte Frontkämpfer des zweiten Weltkrieges Verhaltensweisen zum Überleben in den Lärm brüllten.

Nach überstandener Katastrophe hofften die ihrer Lauben beraubten “Datshniki” auf Entschädigung und stellten entsprechende Anträge an Stadt und Armee. Wie sich nun herausstellte, war die gesamte Datschensiedlung illegal, weil viel zu nah an dem explodierten Depot gelegen. Noch zu Sowjetzeiten hatten örtliche Beamte das Gelände gesetzeswidrig zu Datschenland umgewidmet und an die gutgläubigen Schrebergärtner zunächst verpachtet und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verkauft, wobei ein Großteil des Geldes natürlich in ihre eigene Tasche floss. Die Schuldigen waren selbstverständlich nicht mehr zu belangen, jedoch sollten nun alle Bewohner der Siedlung ihre Datschen und Grundstücke sofort und entschädigungslos räumen. Skandal, Empörung, Verhandlungen. Am Ende einigte man sich auf eine typisch russische Lösung: Die Datschniki durften, auf eigenes Risiko natürlich, bleiben, bekamen aber für die Explosionszerstörungen keine Entschädigung – und waren damit sogar noch gut bedient. Wenigstens die Räumung der Geschosse und Blindgänger, die übrigens Monate dauerte, übernahm die Armee gnädigerweise auf eigene Kosten.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Taxi zum Flughafen, um in einem neunstündigen Flug (länger als von Frankfurt nach Washington – und das bei einem Innlandsflug; soviel zu den Dimensionen des Landes) nach Moskau zurückzukehren. Das Abenteuer Transsib war beendet.

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