Moskau Report (Oktober 2004)
Moskau Report (Oktober 2004)
Hallo an alle. Nach endlos langer Zeit mal wieder ein Moskaureport, wobei der Zeitabstand seit dem letzten Bericht mal wieder völlig außer Kontrolle geraten ist: beabsichtigt war, nach einem Monat zu schreiben, nun sind’s doch wieder viereinhalb geworden.
Deshalb gleich zu den „Kurzgeschichten“:
– Neulich hatten wir in unserer Firma einen bei der Kriminalpolizei angestellten Sozialarbeiter zu Besuch. Thema war die besorgniserregende Jugendkriminalität, wobei die hier in gut sowjetischer Denkart schon pubertäres rumpöbeln und juveniles, schiefgelaufenes Herumexperimentieren mit der zu verkraftenden Menge genossenen Alkohols dazurechnen. Erschreckend ist allerdings tatsächlich, dass im Zentrum von Moskau ca. 5000 russische Kinder bis 15 Jahren bei Zigeunerclans im Bereich Drogenkurier, Taschendiebstahl, Bettelei und Raub auf „Honorarbasis“, teilweise mit Wissen und Billigung der Eltern „angestellt“ sein sollen.Nachdem der gute Mann uns also mancherlei besorgniserregendes Zahlenwerk vorgetragen und Ratschläge zur gesetzestreuen Beschäftigung des Nachwuchses erteilt hatte, ging er zum – wie mir schien – eigentlichen Thema über und hielt uns einen gut 40minütigen Vortrag, zu welchem Verhalten unsere Kinder anzuhalten seien, für den Fall, dass sie in die Hände der Polizei, d.h. seiner Kollegen, geraten sollten. So muss man schon 10jährigen beibringen, unter keinen Umständen auch nur irgendetwas ohne Anwalt zu unterschreiben, auch wenn das bedeutet, dass sie u.U. die Nacht in einer Zelle mit einer Horde sturztrunkener und randalierender Fußballfans verbringen müssen. In Russland hat nämlich, im Gegensatz zu Deutschland, ein von einem 10jährigen ohne elterlichen oder anwaltlichen Beistand unterschriebenes Geständnis vor Gericht Beweiskraft. Dass zehnjährige eigentlich nicht inhaftiert werden, sondern nur bis zum Eintreffen der umgehend zu informierenden Eltern in Gewahrsam genommen werden dürfen, versteht sich natürlich von selbst, genauso wie die Tatsache, dass das auf den Wachen keine Schwein interessiert.
Dies war nur der eine Aspekt des Vortrages, der die unterschiedlichsten Ratschläge zu Verhalten und Hilfesuche enthielt, für den Fall, dass sich der Nachwuchs beim Mistbauen ertappen lässt – schon abgefahren, dass die Kriminalpolizei eines Landes Sozialarbeiter beschäftigt, die der Bevölkerung erklären, wie sie ihre Kinder vor der Schutzpolizei schützen können…
Ein wiederum richtig klasse Einfall war, um die Eltern der Zielgruppe dieser Kampagne bei der Beschäftigung mit ihrem Nachwuchs zu unterstützen, dass die Kriminalpolizei in Zusammenarbeit mit Historikern, Heimatkundlern und Kunsthistorikern zwei äußerst informative und gut gemachte Videokassetten herausgebracht hat mit Infos über Geschichte und Sehenswürdigkeiten Moskaus, die man prima mit der ganzen Familie besuchen kann. Ist eigentlich ein recht origineller Ansatz: Eltern konkrete Hilfe zu leisten, wie sie sich sinnvoll mit ihren Kindern beschäftigen können und alle Beteiligten dabei noch etwas über Heimatstadt lernen.
– Letztens bin ich mal wieder in einem Privattaxi unterwegs gewesen (ist so etwas wie bezahltes Trampen und hier eine der verbreitesten Methoden der Fortbewegung innerhalb der Stadt). Als der Fahrer hörte, dass ich aus Deutschland bin, war die Freude gross (wie „die Russen“ auf der Strasse überhaupt sehr deutschenfreundlich und deutschlandbegeistert sind), zumal er in der DDR gedient hatte und danach sein Geld mit der Überfuehrung von Autos und anderen, nicht näher bezeichneten Dingen aus Deutschland verdiente (Svetlana wundert sich schon, hier hat fast jeder, mit dem wir sprechen, entweder Verwandte in Deutschland oder in der DDR gedient – und alle haben eine gute Meinung über Deutschland insgesamt).
Was mich schwer beeindruckte, war seine Erzählung, wie er mit einem Kumpel Anfang der 90er in einem Mercedes durch die Kaparten fuhr – Makarov-Pistole und Handgranate als Standartsicherheitsausrüstung im Handschuhfach – und einen ganzen Tag von zwei anderen Wagen verfolgt wurde, die sich auch bei halsbrecherischem Tempo nicht abschütteln Erst bei der Einfahrt in eine Kleinstadt verschwanden die Verfolger – wilder Osten.
– Im Juni waren Sveta und ich für ein paar Tage in Petersburg. Abgesehen davon, dass es bis aufs Wetter sehr schön war und Muttern mit Schwester zufällig zur gleichen Zeit dort waren, was uns ein nettes Familientreffen auf „neutralem“ Boden bescherte, ist eigentlich nur eine Begebenheit erwähnenswert: Einen der Tage dort sind wir nach Peterhof gefahren (ein Sommerschloss Peters des Großen in der Nähe Petersburgs), wobei wir die Route im Tragflächenboot über den Finnischen Meerbusen wählten. An der Kasse ein unglaublicher Touristen- und Ausflüglerauftrieb, der uns Gelegenheit gab, für ca. zwei Stunden das Schlange-steh-Verhalten der unterschiedlichsten Nationen zu studieren.
In der Menge auch eine Gruppe Hamburger „Bürger“ im Rentenalter: die Frauen mit Perlenkette und blonder Haarspray-Beton-Welle (die Sorte aktiver wohlhabender Rentnerinnen, die unsere Reklamen für rüstige Senioren bevölkern), die Männer eher vom Typ Ex-Zahnarzt oder Führungskraft (auch bekannt aus der Werbung: „…würdest du alles im Leben genauso machen?“ „Nein, ich würde meine Brille bei Fielmann kaufen“). Der Kaschmirpulli war bei fast allen unausweichliches Accessoire, ja geradezu Stammesmerkmal (versteht sich von selbst, dass das Ding über die Schultern gelegt, mit über der Brust verknoteten Ärmeln getragen wurde). Die sprachen nun leider überhaupt kein Russisch und wären deshalb beim Ticketkauf hemmungslos untergegangen, wenn Sveta und ich Ihnen nicht aus Langeweile und Herzensgüte geholfen hätten.
In Peterhof angekommen, stellten wir fest, dass Russen 50 Rubel Eintritt zu zahlen hatten – und Ausländer 280,- (fast zwanzig Mark). Zwanzig Meter von der Kasse entfernt stand ein Parkwächter und verkündete laut und ungestört, dass er für 25 Rubel jeden ungehindert über den dort nur 1,5m hohen Zaun klettern lasse. Das haben wir unseren Landsleuten, die davon ganz begeistert waren, übersetzt, flugs von jedem 25 Rubel eingesammelt, diese an den Wächter weitergereicht und schon kamen wir in en Genuss eines einmaligen Schauspiels: Die Belegschaft verschiedener Doppelherz-, Fielmann-, Jacobskrönung- etc Werbefilme erklomm etwas steif und ungeschickt, aber dafür mit um so größerer Begeisterung unter gänzlich unhaseatischem „Juchee“ den Zaun (Contenance, meine Damen!) und bekam sich nach erfolgreichem Regelverstoss überhaupt nicht mehr ein: Abenteuer UND 255,- Rubel pro Person gespart (quasi Karl May und Aldi in glücklicher Kombination) – dieser Tag konnte gar nicht mehr schlecht werden, und das bei Leuten, die sonst bereit sind, für Schwarzfahrer der Pranger wieder einzuführen.
– In meiner Poliklinik bekam letztens ein Patient in meiner Anwesenheit zu hören, dass die Abteilung ihr Quartalbudget für Röntgenfilme aufgebraucht habe und nur noch ganz dringende Fälle geröntgt werden könnten; und ein solcher sei er nun wirklich nicht, er solle zwei Monate warten.
Fairerweise muss ich aber hinzufuegen, dass der Laden mit einer umfangreichen und hochmodernen Ultraschalldiagnoseabteilung ausgerüstet ist, die in Russland, anders als in Deutschland, von speziell geschulten Ultraschalldiagnostikern bedient wird, die den ganzen lieben langen Tagen nichts anderes machen, als Knochen und Organe auf Defekte zu untersuchen. Wenn ich bedenke, dass in St. Petersburg vor acht Jahren in der ganzen Stadt nur ein solches Gerät existierte, dass von zwei Leuten bedient wurde, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten… Es hat sich hier schon vieles enorm verbessert.
– Noch etwas zum Thema Gesundheitswesen: Vor einigen Wochen lag auf meinem Weg zum Einkaufen ein junger Mann ohnmächtig auf der Straße. Da er „normal“ angezogen, also offensichtlich kein Obdachloser oder Spritti war und dazu doch recht bedenklich aussah, hatten Passanten den Notarzt gerufen, was hier sehr selten vorkommt – Rumliegende werden üblicherweise ignoriert. Nicht so hier, da doch gesteigerter Anlass bestand, anzunehmen, dass dem guten Mann ernstlich etwas fehle.
Eintreffen des Notarztwagens, die Ärztin steigt aus, eine – freundlich gesprochen – streng-resolute Mittfünfzigerin, fassförmig und mit blondierter Betonfrisur. Ein Prachtexemplar „Muttchen“, wie es nur die Sowjetunion hervorbringen konnte: Wenn sie gute Laune haben oder du ihnen gefällst, sind sie die mütterliche Liebenswürdigkeit in Person und machen alles für dich (und es gibt nichts, was die nicht könnten), haben sie einen schlechten Tag erwischt, oder du bist nicht ihr Typ, kannst du zu ihren Füßen verrecken und sie schnautzen dich noch an, dass du geffälligst nicht mit deinem Kadaver ihren Verantwortungsbereich beschmutzen und zum Teufel noch mal wo anders über den Jodan zu gehen hättest.
Ein Musterbeispiel dieser Spezies nähert sich also dem Bewustlosen, schaut ihn sich kurz an und beginnt daraufhin, ihn unter Beschimpfungen mit kräftigen Ohrfeigen zu tracktieren. Auf den zaghaften Einwand der Umherstehenden, vieleicht sei er verletzt, man möge ihn doch erst einmal untersuchen, heisst es: „Ach Quatsch, der ist randvoll der Arsch. Völlig dicht, das kenne ich schon. Von den Deppen habe jeden Tag fast ein Dutzend“. (Die Beschimpfungen des Patienten lassen sich im Deutschen leider nicht adäquat wiedergeben, das Russische ist auf diesem Gebiet weitaus farbenfroher.) Die Umherstehenden, die nun ernstlich fürchten, die Erste Hilfe könne dem armen Trinker (denn, wie sich herausstellte, war er tatsächlich voll wie ein Amtmann) völlig den Rest geben, wagen einzuwenden, er sei ja nun eindeutig ziemlich heftig gestürzt und habe sich abei u.U. am Kopf verletzt. Reaktion der Retterin: „Schert euch zum Teufel, und der hier am besten auch gleich! Ich mache hier meine Arbeit – und Kommentare brauche ich nicht. Macht, dass ihr weiterkommt“. Derweil klatschten unaufhörlich die Ohrfeigen. Irgendwann ist der arme Wicht teilweise zu sich gekommen und wurde dann doch auf Drängen von Volkes Stimme in den Notarztwagen geschleift. Mit dem Gemüsehändler, bei dem ich während des Vorganges einkaufte kam uns der Gedanke: wenn der Mann nun wegen des Sturzes eine Gehirnerschütterung hatte oder allergisches Opfer eines Wespenstichs gewesen wäre… Nicht so tolle Vorstellung.
– Vor einigen Wochen berichtete das Moskauer Fernsehen von einigen Betrügern, die Grabstätten auf einem besonders prestigeträchtigen Friedhof (die müssen hier sogar im Tod noch angeben) für teuer Geld verkauft hatten. Der Haken bei der Sache war nur, dass auf diesem Gottesacker schon seit einigen Jahren nicht mehr beerdigt wird. Eigentlich fies, noch beim letzten Kauf im Diesseits über den Tisch gezogen zu werden…andererseits, wer es so nötig hat, damit anzugeben, wo seine Gebeine dereinst modern werden, hat es, wenn ich es recht bedenke, auch nicht anders verdient.
– Das erste Wochenende im September waren wir mit Sveta und einigen ihrer Freunde auf einer sehr abgefahrenen Veranstaltung: ungefähr 150 km westlich von Moskau gibt es einen kleinen Ort namens Borodino. Dort haben sich Russen und Franzosen während Napoleons Russlandfeldzug eine eintägige, äusserst blutige Schlacht geliefert, Ausgang aus russischer Sicht bestenfalls unentschieden. Als die Franzosen am nächsten morgen weitermachen wollten, mussten sie feststellen, dass die Russen sich über Nacht verdrückt hatten, um sich hinter das vorher von ihnen selbst niedergebrannt Moskau zurückzuziehen.
Für historisch interessierte ein kurzer Einschub: da der russische Oberbefehlshaber eine weitere offene Auseiandersetzung mit Napoleon vermeiden wollte und wusste, dass die Franzosen wäherend des nahenden Winters wegen der russchen Strategie der verbranten Erde in jedem Fall ab Anfang Oktober derbe Versorgungsschwierigkeiten bekommen würden, beschloss er, mit diesem Manöver die eigenen Truppen vor weiteren Verlusten zu verschonen – die Russen hatten, obwohl ein französischer Durchbruch abgewendet werden konnte, die deutlich mehr Tote und Verwundete – und sie angesichts düseterer Aussichten für den zweiten Schlacht-Tag für eine partisanenhafte Taktik gegenüber den von Kälte und Hunger stark geschwächten Eindringlingen aufzusparen. War dann ja auch erfolgreich der Plan. In Russland wird diese Schlacht allenthalben als großer Sieg gefeiert.
Am Schauplatz dieser Schlacht treffen sich jährlich hunderte Mitglieder sogenannter Historischer Militärclubs aus aller Herren Länder (wenn auch hauptsächlich aus Russland und dem nahen Ausland), die als Hobby alte Uniformen nachnähen, historisches Kriegsgerät nachbauen und zeitgenössisches Militärleben und Schlachten nachstellen. Auch wenn sich Liebhaber aller möglichen Epochen dort tummelten, so waren Russen und Franzosen aus der Zeit der Napoleonischen Kriege in der absoluten Mehrheit. Als Höhepunkt der Veranstaltungen haben dann etwas über tausend Leute in (historisch genauen) selbstgemachten Uniformen ein Gefecht der Schlacht bei Borodino nachgestellt – mit Kavallerie, Artellerie (unter Verwendung umfangreicher Pyrotechnik inkl. zerschredderter Kanonen und Kanoniere). Eine Stunde lang ging es zu wie in einem Historienschinken. Und das alles von Leuten, die so was nur in ihrer Freizit betreiben – Respekt. Etwas störend, wenn auch von unfreiwilliger Komik, war die Tatsache, dass die Vorgänge auf dem Schlachtfeld über Lautsprecher von einem Moderator kommentiert wurden, der anscheinend sonst in einer Sportredaktion, Abteilung Fussball arbeitet: „…die französischen Jäger greifen auf der linken Flanke an; ihnen entgegen eilt eine Kompanie des 43sten russischen Linienregiments, die Franzosen erleiden Verluste, der Vorstoss schein abgewhrt… Aber nein, eine Abteilung französischer Kavallerie bricht herein und unterstützt die Infanterie, das Linienregiment ist gezwungen ein Karree zu bilden. Heftiges Feuer bringt die Reiterattacke zum stehen, gleichwohl sind unsere gezwungen sich zurückzuziehen. Am rechten Flügel wird eine Batterie zurückerobert, doch schon erfolgt der Gegenstoss… usw. usw….“
Ziemlich spaßig war as Bild, das die Kombattanten am Vortag boten: überall im Ort lungerten historisch uniformierte „Soldaten“ verschiedener Einheiten einzeln und in Gruppen herum, wobei JEDER (wirklich jeder) eine Bierbüchse in der Hand hielt – bizarrer Stilbruch. Auch schön der Anblick zweier „russischer Infanteristen“ zwanzig Minuten vor Schlachtenbeginn: Beide rattenstramm, einer mit Handy in das er laut schreit: „ Ja, ich hab noch einen gefunden, ein Kumpel von mir. Hat zwar kein Gewehr, aber Mantel, Mütze und Säbel. Wir können den zur Artillerie stellen, da fällt’s weniger auf – und einen von denen zu den Truppen dichter am Publikum…“
Die Begeisterung der Teilnehmer, die liebevoll und wahrlich professionell gemachten Kostüme, die fast perfekt inszenierte Schlacht, skurile Begebenheiten der eben beschriebenen Art und die Tatsache, dass wir da mit Lagerfeuer und reichlich Vodka in Zelten übernachtet haben, machten dieses Wochenende wirklich zu einer gelungene Veranstaltung.
– Gestern abend in der U-Bahn, der ganze Waggon voll mit Uniformierten (vulgo: Bullen), ein Zusatnd an dem wir uns jedes Wochenende „erfreuen“ können, da wir an einer Metrolinie wohnen, die zu einem der Erst-Liga-Fussballstadien der Stadt fuehrt. Diesmal kam ich ins Grübeln: U-Bahnkontrollieren okay, aber warum in ganzen geschlossenen Abteilungen? Zumal sie, was recht possierlich aussah, vor dem Einsteigen und nach dem Aussteigen wie eine Vorschulgruppe aufgestellt und durchezählt Wieso schleppen mehrere Mann der Abteilung grosse Umhängetaschen mit Papierkram mit sich rum, bei uns liegt das Zeug doch in den Wannen? Da wurde mir auf einmal klar (ein österreichstämmiger Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts mit minderer künstlerischer Begabung aber großem Zerstörungspotential hätte geschrieben: „…da traf es mich wie ein Keulenschlag…“ – schauderhafter Stil aber durchaus passendes Bild): die fuhren zum Einsatz, bzw. einige Stunden später kamen sie von eben jenem zurück. Mann stelle sich vor, unsere Bereitschaftspolizei führe mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur 1.Mai-Demo oder zu Fussballspielen. Toll! Der Gedanken lässt sich noch weiterspinnen, wie sie sich z.B. schon unterwegs mit Autonomen oder Hooligans um die besten Sitzplätze balgen…
Hm, ich stelle gerade fest, dass nur die Kurzgeschichten schon etliche Seiten füllen. Deshalb in stark gekürzter Form noch zwei Sachen, von denen ich eigentlich ausführlicher berichten wollte:
Im Mai war ich mit Svetlana bei ihren Eltern in der Stadt Krasnoyarsk 45, eine verbotenen Stadt, in die man nur mit Passierschein gelangt und die bis heute auf keinem Atlas zu finden ist. Ich selber habe als angeheiratetes Familienmitglied sechs Monate vorher einen Besuchsantrag stellen müssen und wurde (wie mir unter der Hand gesagt wurde) sowohl vom Innlands- und Auslandsgeheimdienst überprüft. In der Stadt produziert eine Fabrik verschiedene, bei der friedlichen Nutzung der Atomenergie nötige Stoffe, und Svetas Vater ist ein landesweit führender Physiker auf diesem Gebiet, den aber wegen der neurotischen Geheimniskrämerei des Staates außerhalb Russlands niemand kennt – das böse Ausland könnte ihn ja sonst abzuwerben versuchen. Ironie des Schicksals – neben der Atomanlage gibt es da auch eine Fabrik, die Video- und Audiocassetten für BASF, also das verdächtige Ausland produziert, worauf die Stadtverwaltung mächtig stolz ist.
Für meine Moskauer Kumpels, die schon seit geraumer Zeit vermuten, ich sei deutscher Spion (wer zieht schon freiwillig nach Russland und lebt dann auch noch gerne hier ohne Expat-Vergünstigungen), war dies natürlich der Beweis meines angeblichen finsteren Treibens. Es wurde nunmehr erwartet, dass ich vom MAD zur Belohnung für herausragende Verdienste im Feindesland mit einer Villa in der Toskana oder sonstwo belohnt würde und dann mit allen Kumpels dort wilde Parties feiern könnte. Stimmt leider alles gar nicht.
Wie auch immer, zunächst sind wir von Moskau (16 Grad plus, Sonne) nach Krasnoyarsk (-2 Grad, Schnee) geflogen und dann mit dem Bus zwei Stunden über Land in die verbotene Stadt. Krasnoyarsk heisst übrigends so viel wie „Rote Hügel“ und tatsächlich ist die Erde unter der Grasoberfläche richtig rot, was ein sehr abgefahrener Anblick ist. Auf der Fahrt kamen wir auch an einem Straflager vorbei, das wirklich fast aussieht, wie in schlechten Filmen: hoher elektrischer Stacheldraht, Wachtürme mit MG und Suchscheinwerfern drauf, geschorene Häftlinge in schwarzer Anstaltskluft, die sich in so etwas wie Käfiggängen zwischen den Betonklötzten (Wohnblöcke und Werkstätten), die über das Gelände verteilt waren, bewegten, über ihnen Wärter mit Kalaschnikov in Laufgängen von denen aus man alles genau überblicken konnte. Es fehlten nur die Holzbaracken, dann hätte man das auch für Filmkulissen halten können. Andererseits, zu denken, dass dort tatsächlich „Strafvollzug“ betrieben wird… Gruselig!
Nach dem Kontrollpunkt, an dem der Bus gefilzt, die Ausweise kontrolliert und mir ein Passierschein für drei (!) Arbeitstage ausgehändigt wurde (dafür habe ich also sechs Monate gewartet – super!), mussten wir noch ca. 40 Minuten fahren bevor wir bei Svetas Eltern eintrafen. Die Stadt selbst war eine Mischung aus Kasernenstadt und Marzahn, d.h., sie erinnerte in der „Altstadt“ etwas an die Garnisionen fünfstöckiger Häuser, die in der Nazi-Zeit in Deutschland gebaut und später von den Amis benutzt wurden, umgeben von einigen Stadtteilen „Platte“ mit dem ihr eigenen Charme.
Svetlanas Eltern wohnen am Stadtrand in einer Einfamilienhaussiedlung, die die Atomfabrik für ihre Topmitarbeiter von einem Amerikanischen Architekten hat bauen lassen. So sieht das ganze etwas aus wie Suburbia in den Staaten und im Haus kam ich mir, trotz russischer Einrichtung (die stehen hier übringends alle mächtig auf Eiche rustikal), dauernd vor, wie in einer amerikanischen Familienserie – und das mitten im tiefsten Sibirien. Das nenne ich erfolgreichen Kulturimperialismus.
Generell war die Zeit einigermaßen erholsam, mit lange Schlafen, Joggen und abends bei Schneetreiben vor der Garage Grillen: Svetas Vater ist schwer begeistert von der Kombination Kokeln und Biertrinken – keine schlechte Sache. Nur dass Besuchsprogramm der Freunde von Schwiegereltern war zuweilen etwas anstrengend.
In der Stadt herrscht quasi Kommunismus: weil die Atomfabrik reichlich Gewinne abwirft, ist der öffentliche Personennahverkehr kostenlos und pünktlich, die Mieten niedrig, es gibt ein reichhaltiges Angebot an kostenlosen Sport- und Kultureinrichtungen, nur leider keine Kneipen ( das einzige Cafe, das wir fanden, hätte auch als Gedenkstätte für realsozialistische Gewalt am Kunden herhalten können). Die Idee dahinter ist, dass man den hochqualifizierten Fachkräften, die man mit relativ hohen Gehältern mitten in die Pampa gelockt hat, auch etwas Lebensqualität bieten muss, damit sie nicht nach wenigen Jahren Depression, Trübsinn und Trunksucht anheimfallen. Das auch ein Grund, warum schon zu Sowjet-Zeiten die Versorgungslage, relativ gesehen, erstklassig war, man gewissermaßen auf einer Insel der Seligen lebte. Daher – und weil man da doch etwas von der Außenwelt abgeschnitten ist, sind in der Stadt nach wie vor die Kommunisten an der Macht, die, siehe Bsp. BASF oben, allerdings recht pragmatisch sind.
Nun kommt’s aber: Eines abends schlenderten Sveta und ich durch die Stadt und entdeckten im Keller des Pionierpalastes (der bis heute so heisst) einen „Rock Club Reanimation“, mit reichlich langhaarigem Metal-Volk davor. Ich war sofort begeistert: Mitten in Sibiren Krach-Musik und Biertrinken – super Sache! Sveta nöhlte aber rum: „ Weisst du überhaupt, was dich da erwartet? In einer Stadt mit den Kommunyagi an der Macht. Und dann noch im Pionierpalast! Das ist bestimmt grausam – spacke, picklige jungs mit unrasiertem ersten Bartflaum schütteln sich zu durchschnittlichem Kreischmetal die Schuppen aus den dünnen, fettigen Haaren; und um 22.00 ist Schluss, weil der gewerkschaftlich organisierte Hausmeister die Schnautze voll hat. Und überhaupt, Alkohol gibt’s da aus Prinzip nicht.“ Ich habe aber nicht locker gelassen, sie den ganzen nächsten Tag psychologisch bearbeitet („Schlimmer Kreischmetal und hässliche Jungs? Prima, kann man toll drüber lästern! Keinen Alkohol? Wo ist das Problem, wir betrinken und vorher. Außerdem ist es doch mal ganz interessant, was in einer Stadt wie dieser so an ‚alternativ’-Kultur machbar ist.“ Gegen Abend hatte ich sie weich und wir sind, während wir uns schon mal warmgetrunken haben, zu besagtem Club gewandert. Was da dann auf uns wartete, war genial: die haben da einen Metal Club aufgebaut, der sich in Berlin nicht verstecken müsste, mit allem drum und drann. Überhaupt war das Ding ein Treffpunkt für alle in Russland sog. „Neformalnye“, d.h. alle nicht-Stinos, die es in der Stadt gab. Eintritt nur mit Clubkarte, um die örtlichen faschoiden Pseudoskins und Möchtegern-Gangster draußen zu halten. Da es in dem Kaff (fast) keine Musik zu kaufen gibt, hatten die alle Musik auf mp3 im Computer, mit einer durchaus anständigen Auswahl.
Als die mitbekommen haben, dass da ein echter Deutscher, der obendrein auch noch auf ähnlichen Lärm wie sie steht, aufgetaucht ist, war das „Hallo“ groß (Ausländer kommen, aus verständlichen Gründen, so gut wie nie in die Stadt. Und die die kommen, naja, für die ist die örtlich Metalszene nicht so richtig die Sehenswürdigkeit). Wir haben mit den Betreibern bis vier Uhr morgens bei Bier und Selbstgebrannten gesessen und über Musik und das Leben geplaudert – richtig klasse Leute. (Charmantes Detail am Rande: Die haben in der Clique einen Juden mit dem – von ihm stolz getragenen – Spitznamen „Deutscher“; Russland ist nach unseren Standards ofmals wunderlich.)
Um allerdings den Veranstaltungsort und das dort beherbergte Treiben gegen allzu großes Interesse behördlicherseits abzusichern, hat der Chef des Ganzen für den Club einen Trägerverein «Patriotische Jugend“ gegründet, um dem Organisationsdenken der Kommunisten entgegenzukommen und sitzt – lange Haare, der üblich Metal-Bart, Ohre voller Silber, wüstes Death Metal-Shirt – als Vertreter der organisierten Juvenilität in verschiedenen städtischen Gremien und diskutiert da eifrig über den Zustand der Jugend und den Bildungsauftrag der Gesellschaft und des Staates mit. Eine groteske Vorstellung, aber er meinte: „ die brauchen das und so lange ich so tue als ob’s mich interessiert, lassen sie mich in Ruhe.“
Ausserdem hat die Club-Crew im letzten Jahr in ihrer verbotenen Stadt ein Metal-Festival organisiert, bei dem die Hälfte der Bands illegal über die Sperranlagen der Stadt ein- und nach ihrem Auftritt wieder ausgeschleust wurden. Das ist noch wahrer Rock’nRoll!
Nebenher betreiben sie in dem Club auch noch ein Tonstudio für alles in dem Städtchen, was Lärm macht und nur einigermaßen Talent hat. Schwer beeindruckend das ganze. Am Ende des Abends haben sie uns noch mit dem Taxi nach hause gefahren, da wir doch etwas „ermattet“ waren. Einen Tag vor unserer Abreise waren wir noch mal da, wieder gab’s Selbtgebrannten (diesmal eine besonders noble, extra für uns angeschleppte Variante) und zum Abschied jede Menge Geschenke. Richtig rührend. Macht aber auch Mut das Erlebnis, dass es in der tiefsten Provinz solche Leute mit dieser Energie und Findigkeit gibt.
So, und damit ist jetzt Schlus des Berichtes, da ihn sonst niemand mehr lesen kann und will. Die versprochene Story, warum Svetlana „Zivert“ und nicht „Siewert“ heisst, spare ich mir nun doch für den nächsten Report.