Moskau Report (Januar 2003)

 

Moskau Report  (Januar 2003)

 

Schönen guten Tag an alle zu Hause! Meiner sibirischen Tradition folgend hier nun ein MoskauReport. Was viele von euch noch nicht wissen, ich bin ich seit Ende 2002 in der Moskauer Niederlassung einer internationalen Marktforschungsfirma als Consultant angestellt.
Und damit fängt der Spaß schon an: In Russland gelten seit dem 1.11.2002 neue Gesetze für Ausländer bezüglich Visa, Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeitserlaubnissen, usw., wobei der genialste Schachzug war, die Zuständigkeiten dafür aus dem Außenministerium ins Innenministerium zu verlagern, jedoch ohne irgendwelche Vorschriften zu erlassen, wie denn die dortigen Beamten z.B. bei der Visavergabe vorzugehen hätten. Aus diesem Grunde versucht meine Firma seit vier Monaten erfolglos, den Antrag für meine Arbeitsgenehmigung einzureichen. Die Antwort ist immer in etwa: „Wir wissen nicht, wie wir verfahren sollen und nehmen deshalb keine Anträge an.“ Die Annahme des Antrages auf ein Geschäftsjahresvisum, den zu stellen mein Arbeitgeber vor dem 1.11. versäumt hatte, wurde bisher mit fast der gleichen Begründung verweigert: „Wir haben keine Anleitungen was wir damit machen sollen, also nehmen wir ihn nicht an.“

 

Deshalb kann man nach Russland momentan nur mit ein-Monats-Touristenvisa oder drei-Monats-Geschäftsvisa einreisen, muss nach dieser Zeit wieder raus und ein neues Visum beantragen. Laut Auskunft der Deutschen Botschaft und der Delegation der Deutschen Wirtschaft in Moskau betrifft das zurzeit alle ausländischen Geschäftsleute, die es nicht geschafft haben, vor dem ersten November ein Jahresvisum zu bekommen. Wenn man sich die so verursachte Reisetätigkeit vorstellt – schließlich muss nun eine Vielzahl Ex-Pats ständig aus- und einreisen -, kann einem fast der Verdacht kommen, bei der ganzen Veranstaltung handele es sich um ein Aeroflot-Unterstützungsprogramm.

 

Für mich bedeutet das: Ich muss am 15.3. für drei bis vier Tage wieder nach Berlin, um ein neues Visum zu bekommen, dann in drei Monaten wieder, usw., usw. – bis der russische Gesetzgeber endlich aus der Hüfte kommt und die entsprechenden Verordnungen erlässt, wobei er aber wohl nicht so richtig in Eile ist. Dumm nur, dass so auch nicht planbar ist, bei wem und für wie lange ich mich irgendwo einquartieren kann. Ein sehr günstig gelegenes und nicht sehr teures Zimmer ist mir deshalb entgangen. Bis auf weiteres wohne ich jetzt bei einem bekannten Rentnerpaar fast in der Stadtmitte, allerdings ist das Zimmer – ich sollte eher sagen: der Verschlag – sehr klein: es passen gerade Bett und Kleiderschrank rein, die Anwesenheit des Koffers überfordert das verschwendungsfreie Raumangebot. Im gleichen Haus schrieb die russische Dichterin Anna Akhmatova ihr berühmtes Requiem – ein Weltmeilenstein des lyrischen Depressionsschaffens. Geht der Blick aus der schummrigen Kammer über den düsteren und absurd kleinen Hinterhof und findet dort nur die zerbröckelnde Ziegelwand eines verlöschend in sich zusammensackenden Wirtschaftsgebäudes, so befällt auch den unbedarften Geist Schwermut, er fühlt mit der empfindsamen Seele des Genies und er begreift, dies ist nicht der Ort fröhliche Verse zu fertigen.

 

Ab Ende März komme ich wohl bei der Mutter eines Freundes unter, leider muss ich dann jeden Morgen anderthalb Stunden quer durch die ganze Stadt zur Arbeit fahren. Auch nicht so der Kracher obwohl nach Moskauer Maßstäben unterer Durchschnitt. Gar an eine Wohnung zu denken ist bei den hiesigen Mieten und meiner Gesamtsituation überhaupt nicht drin. Wie lange sich meine Firma leisten kann, mich alle drei Monate für einige Tage nach Deutschland zu schicken ist genauso wenig klar, wie die Antwort auf die Frage, wann die Russen endlich wieder längerfristige Visa ausgeben. Es bleibt also spannend.

 

Nachdem also der allgemeine Rahmen meines Hierseins beschrieben ist, nun zum Alltäglichen: Schon die Abreise begann sehr symptomatisch für meinen bisherigen Aufenthalt: Aeroflot verweigerte zunächst unter Verweis auf undeutlich gemurmelte und nicht näher erläuterte technische Gründe das Einchecken der Passagiere in Schönefeld, um uns dann mitzuteilen, die Maschine habe fünf Stunden Verspätung. Auf meine Frage, ob ich von ihrem Büro aus in Moskau anrufen und meine dort wartenden und mich abholenden Freunde anrufen könne, hieß es, ich sei ja noch nicht eingecheckt, Aeroflot habe also keine Verantwortung mir gegenüber, ich solle mal schön auf eigene Kosten von der Telefonzelle aus anrufen (hat mich fast 20 Euro gekostet). Deshalb hatten die also das Einchecken verweigert: sie mussten sich um die Passagiere nicht weiter kümmern. Das war aus ihrer Sicht auch sehr pfiffig, da sie der Abflug im Stundentakt (man hätte ja sonst nach Hause fahren und etwas schlafen können) um insgesamt neun Stunden verschoben. Der Flug selber verlief dann störungsfrei.

 

In Moskau selber hatte ich zwei Stunden zu warten, da mein Ersatzabholer nicht früher konnte (das ursprüngliche Begrüßungskomitee war natürlich inzwischen schon Schlafen und dann zur Arbeit gefahren), hab mir aber die Zeit damit vertrieben, eine deutsche Familie, die kein Russisch konnte und wegen der Verspätung ihren Anschlussflug nach Ekaterinburg versäumt hatte, auf Aeroflotkosten in einem Hotel unterzubringen und den Weiterflug umzubuchen. Ohne Sprachkenntnisse wären die glatt verhungert, da die „Internationale Airline“, so der Untertitel, sich auch nicht weiter um die entsprechenden Fluggäste kümmern wollte. Ich hatte zumindest den Vorteil, dass ich meine Freundin, die aus Novosibirsk nach Moskau kam, um mit mir Sylvester zu feiern, direkt mit vom Flughafen abholen konnte und nicht extra wieder aus der Stadt raus musste, was in Moskau, je nach Verkehrsaufkommen, zwei bis vier Stunden dauern kann – in eine Richtung. Always look at the bright side of life.

 

An dem Tag waren dort übrigens minus 28 (!) Grad, was aber wegen der absolut trockenen Luft nicht halb so gemein ist, wie bei uns minus fünf! Man zieht sich warm an und dann ist gut. Keine Feuchtigkeit, die in jede noch so dicke Jacke kriecht. Momentan haben wir plus zwei und Regen – und das ist weitaus fieser.

 

Themenwechsel – Straßenverkehr: Auf dem Weg zur Arbeit fahre ich erst mit der U-Bahn und dann mit einer sogenannten Marschrutka, das ist eine Mischung aus Sammeltaxi und Bus-Service. Die dort eingesetzten Gefährte sind so etwas wie die russische Antwort auf den Ford Transit (etwas größer), technisch meist in erbarmungswürdigem Zustand und überwiegend pilotiert von todesverachtenden Zentralasiaten knapp oberhalb des Analphabetismus, oder von Russen „aus der gleichen Oper“, wie man hier sagt. Da morgens immer Stau herrscht – während des Berufsverkehrs steht die Stadt buchstäblich still – wechseln die Fahrer dieses privatisierten Öffentlichen Nahverkehrs zuweilen auf den Bürgersteig und fahren ein bis zwei Kilometer am Stau vorbei, bis sie wieder auf die Fahrbahn wechseln – schließlich fahren sie auf eigene Rechnung; je mehr Touren sie schaffen, desto mehr haben sie am Ende der Schicht in der Tasche. Hat mich schwer beeindruckt diese Kaltschnäuzigkeit. Dem Fußgänger bleibt dabei freilich nur, sich selbst auf „seinem“ Territorium mit größter Umsicht zu bewegen, einem Sabotagetrupp im feindlichen Hinterland nicht unähnlich; Unfälle sind keine Seltenheit.

 

Noch eine Visa-verwandte Geschichte zum Abschluss: jeder Ausländer in Russland muss sich innerhalb von drei Werktagen nach seiner Ankunft registrieren lassen, was wegen des Ausmaßes der dabei zu erledigenden Formalitäten kaum zu schaffen ist. Früher wurde das recht locker gehandhabt, seit aber das Innenministerium (der Hort russischer Bürokratie und Bürgerschikane) in dieser Angelegenheit ein ebenso humor- wie plan- und gnadenloses Schreckensregiment führt, verstehen die in der Sache keinen Spaß mehr.

 

Wegen der reichlichen russischen Feiertage um Sylvester herum hatte meine Firma es versäumt, mich rechtzeitig zu registrieren, weshalb ich mit dem Office-Manager zur nächsten Polizeiwache musste, um Strafe zu zahlen, was wiederum Voraussetzung für die nunmehr verspätete Registrierung war. Bei unsrer Ankunft wusste dort niemand was von den neuen Bestimmungen und in der gesamten Wache fanden sich auch nicht die nötigen Formulare, die für diesen Fall vorgeschrieben und gefordert waren. Wir sollten also am nächsten Tag wiederkommen. Gesagt getan, nur dass es die Formulare – Überraschung, Überraschung – immer noch nicht gab. Also wurde hin- und herüberlegt und schließlich ein Ausweg gefunden (man tippte sich das Formular nach eigenem Gutdünken und Ermessen selber), dann wurde ich durch den Zellenblock in ein Verhörzimmer geführt, was mir einen beeindruckenden Einblick in die Ausstattung russischer Justitzprofanbauten gestattete, wo ich ein Protokoll unterschreiben musste, dass ich durch nicht zeitgemäßes Registrieren eine Ordnungswidrigkeit begangen hätte. (Anmerkung: wenn jetzt innerhalb eines Jahres auch nur irgend ein „Ment“ – Russisch für „Bulle“ – meint, ich hätte ein Ausländergesetz verletzt, kann mir mein Visum aberkannt und ich für unbestimmte Zeit des Landes verwiesen werden – zwei Ordnungswidrigkeiten und du bist raus).

 

Der anwesende Vertreter der, wie es auf Russisch heißt, „gesetzbewahrenden Organen“ war sehr freundlich, machte uns für die Meldestelle sogar eine beglaubigte Kopie des Protokolls, meinte aber – was ich für einen Scherz hielt – die Tatsache, dass er sich diese Mühe mit uns mache (mir die Strafe ordnungsgemäß abzuknöpfen) koste mich aber einen Schnaps. Als wir dann gingen, ließ er durchblicken, dass noch etwas fehle, und der Office-Manager drückte ihm 100 Rubel (ca. 6 DM) in die Hand. Mit anderen Worten: Dafür, dass die Jungs eine mehr als zweifelhafte Strafgebühr von mir annahmen (die Registrierstelle hatte nämlich höchstwahrscheinlich um Neujahr herum gar nicht auf, aber das lässt sich nicht beweisen; ein russischer Beamter hat immer recht) und mir die Quittung und das Protokoll aushändigten, musste man sie auch noch bestechen! Super!

 

Während meines Aufenthalts im Wachgebäude wurde eine Gruppe frisch verhafteter Usbeken eingesperrt, angeblich, weil deren Dokumente unvollständig waren. Wie der mit mir befasste Ordnungshüter offen zugab, ging es nur darum von denen Geld zu erpressen, wer genug dabei hatte, konnte sofort gehen, die anderen mussten in der Zelle warten, bis ihre Freunde/verwandte ausreichend Patte herbeigeschafft hatten.

Soweit meine Abenteuer bisher.

Euch allen alles Gute, Freundschaft, Kai

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