Moskau Report (April 2004)

MoskauReport (April 2004)

Hallo allerseits,
zunächst einmal allen ein frohes Neues Jahr und alles Gute für 2004!!!
Da zuweilen nachgefragt wurde: Sveta und ich haben beim letzten Bombenanschlag nichts abbekommen, obwohl die Sache genau auf der U-Bahnlinie passierte, an der wir wohnen und auf der wir jeden Morgen zur Arbeit fahren. Allerdings steigen wir immer zwei Stationen vor der Explosionsstelle aus. Da auch aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis niemand betroffen war, können wir sagen, die Sache „glücklich“ überstanden zu haben. Der Vorfall unterstreicht eigentlich nur das, was ich in meinen Berichten immer zu vermitteln versuche: im Chechenienkonflikt gibt es kein Gut und Böse, auch wenn unsere westlichen Medien immer versuchen, eine solche Rollenverteilung zu Gunsten der Chechenen zu betreiben. Wer vollbesetzte U-Bahnwagen sprengt, ist ein Terrorist. Das hat mit Freiheitskampf gegen Besatzungstruppen nichts mehr zu tun. Zumal die Moskau Times (eine englischsprachige, unabhängige und sehr regierungskritische Moskauer Tageszeitung) letzte Woche berichtete, dass nur eine der Selbstmordattentäterinnen, die im Laufe des letzten Jahres in Moskau Explosionen verursacht haben, dem Bild der „Schwarzen Witwe“, deren Ehemann oder andere nahe Verwandte von russischen Besatzungstruppen umgebracht wurden, wofür sie als Selbsmordattentäterinnen Rache nehmen, entsprach. Alles andere waren Frauen, die irgendwelche archaischen Stammesregeln verletzt hatten und auf diese Weise „Gelegenheit“ bekamen, die Ehre der Familie reinzuwaschen, oder 1000$ zu verdienen (die die Familie jeder „Shakhidka“ von den „Freiheitskämpfern“ bekommt), damit Ihre Familie an eine klagenden Partei Kompensation für erlittene Kränkung leisten konnte.

Jetzt aber zum eigentlichen Bericht, endlich komme ich dazu, einen neuen Moskaureport zu verfassen. Die Gründe für das Nichtschreiben waren mannigfaltig, hier nur die beiden wichtigsten:
– Gesundheitlich, ich hatte mich beim Fischezubereiten am Daumen verletzt und die ganze Geschichte entwickelte sich recht schnell erst zu einer üblen Entzündung, zu deren Heilung mir der Daumen aufgeschnitten werden musste. Als das überstanden schien, trat eine sogenannte Wundrose zu Tage, eine Entzündung der Haut, des Lymphzystems und der Gelenke, die durch Bakterien hervorgerufen wird, sich via Lymphsystem über den ganzen Körper ausbreiten und – in Extremfällen – zum Tode führen kann. Diese Info’s hab ich alle von mehreren deutschen web-sites, in denen auch zu lesen war, dass bei einer derartigen Infektion für eine Woche ins Krankenhaus eingewiesen und hochdosiert mit Antibiotika gearbeitet wird.

Hier sieht man das gelassener: Nachdem eine Woche lang erfolglos versucht wurde, die Angelegenheit mit Bestrahlung in den Griff zu bekommen, musste ich dann doch 10 Tage Antibiotika schlucken und durfte drei Tage lang das Bett hüten und die Hand ruhig stellen. Nicht dass der Arzt die letztgenannten beiden Maßnahmen wirklich für nötig gehalten hätte („kannst du machen, schadet nichts, ist sicher gut, brauchst du aber nicht unbedingt machen“), ich konnte nur schlichtweg den Arm vor Schmerzen nicht mehr bewegen, von Arbeit am Computer ganz zu schweigen. Inzwischen ist die Sache fast ausgeheilt, der Daumen schmerzt noch etwas, aber das könne noch lange dauern und sei normal, wurde mir im Krankenhaus versichert.

– Außerdem hat mit Svetas Umzug nach Moskau das Familienleben bei mir begonnen und sich damit die Zeit für Schreibereien erheblich verringert. Dazu kommt, dass seit zweieinhalb Monaten Eishockeysaison ist und ich die Wochenenden meist auf dem Eis verbracht habe (dazu später mehr) und obendrein bei mir auf Arbeit die Hölle los ist (anscheinend wollen alle Marketingabteilungen der Welt noch kurz vor Neujahr ihr Budget mit Research-Studien verbraten), was alles dazu führt, dass ich kaum Zeit und Muße finde, irgendwie Sinnvolles zu schreiben. Heute liegt die Gattin verkatert schlafend auf dem Sofa, das Wetter ist mies und Eishockey fällt aus, was kann da besser sein als schreiben? (Naja, sich betrinken wäre auch okay, darf ich aber nicht, da auf Medikamenten…)

Also, im August haben wir geheiratet, detaillierte Berichte darüber spare ich mir, da das Geschehen schon recht lange zurückliegt und nur wenig originelles passierte, die Veranstaltung insgesamt als sehr friedlich und geglückt bezeichnet werden kann, was so richtig spannend zu beschreiben und zu lesen auch nicht ist. Auf diesem Wege noch einmal Dank an alle, die (nicht nur) durch Anwesenheit zum Gelingen der Feier beigetragen haben! Auch einen weiteren Dank an alle Mitwirkenden des Albums, das ein dufte Geschenk war.

Einiges Belehrendes und Erbauliches zu erzählen gibt es aber doch: In Russland ist es üblich, zur Hochzeit ein repräsentatives Auto zu mieten, in dem die Brautleute nach der Trauung durch die Stadt gefahren werden, gefolgt von den Trauzeugen und Gästen (ähnlich, wie bei unseren anatolisch-stämmigen Mitbürgern). Man steuert verschiedene traditionelle Punkte/Denkmäler in der Stadt an, legt Blumen nieder und betrinkt sich zügig (hierin wiederum unterscheiden sich die Russen von den Anatolen). Besonders hoch im Kurs stehen amerikanische endlos-lang-Angeber-Zuhälterschlitten, wie man sie so aus schlechten Gangsterrappervidoes kennt. So was kam für Svetik und mich natürlich nicht in Frage. Wir haben mit viel Ausdauer eine „Tschaika“ aufgetrieben, die UdSSR-Bonzenschüssel für die absoluten Topkarder (und keinen „Wolga“, wie Herr Krehnke völlig falsch berichtete – Wolga war das Angeberauto für mittlere Chargen und solche, die es gerne wären). Das Problem war nur, dass die sehr schwer zu bekommen sind, ich musste dem Besitzer im Vorfeld drei Wochen lang hinterhertelefonieren, mich mehrmals mit ihm treffen, wobei er kein einziges Mal nüchtern war, und Zweifel beschlichen mich, ob am Hochzeitstag der Wagen auch wirklich vor der Tür stehen würde. Aber – welche Freude – er war da und – o Wunder – der Fahrer nüchtern und sogar in weißem Hemd und schwarzem Jackett (manchmal sitzen die Jungs nämlich sogar im schmierigen T-Shirt hinterm Steuer).

Wir also das Auto mit Luftballons geschmückt, die aufgebrezelte Braut mit ebensolcher Trauzeugin eingeladen, mit dem Trauzeugen einen Kurzen genommen und ins Auto gesetzt (es waren noch 15 Minuten bis zum Trauungstermin), da ging die Mistkarre aus und sprang nicht mehr an. Somit wurde dieser ehemalige Ministerschlitten schlagartig zum Symbol der Sowjetunion: groß, bombastisch, etwas altmodisch, mit einem Ungeheuer von Motor, der wahnsinnig Sprit frisst (26 Liter auf 100km – da träumt jeder Tanktwart von!), aber wenns drauf ankommt, verreckt dieses Motoren-Monster elendiglich und schnöde.
Schließlich gelang es dem Fahrer mit vielerlei Tricks, das Fahrzeug dann doch wieder anzuwerfen, aber dieses Spiel wiederholte sich ab jetzt an jeder(!) Ampel, an der wir anhalten mussten. Als wir endlich beim Standesamt ankamen waren alle Insassen des Autos mit den Nerven fertig – und die eigentliche Veranstaltung stand erst noch bevor.

Auf dem Standesamt selber lief alles ohne Probleme, wobei die herausragende logistische Leistung dieser Behörde zu lobpreisen ist: Es wurden in Moskau in den ersten 11 Monaten dieses Jahres 51 000 Ehen geschlossen, die meisten davon in dem Monaten Mai bis September. Ihr könnt Euch also vorstellen, was da auf den Standesämtern los war. Trotzdem lief alles reibungslos und zügig ab, ohne überflüssiges Brimborium, gleichwohl aber feierlich und würdevoll – stilistischer Höhepunkt war, als uns die Standesbeamtin mit einem durchsichtigen, kunstvoll geschwungenem Plastikstab (!) mit hoheits-huldvoller Geste bedeutete, wo wir unterschreiben sollten.

Ein schmachvolles Detail: So lange ich mich erinnern kann, habe ich, mit Blick auf amerikanische Schmachtfilme aus Gründen des Geschmacks und des Antiamerikanismus, immer laut getönt, bei meiner Hochzeit werde niemals (!!!) dieser fürchterliche Mendelssohn’sche Hochzeitsmarsch gespielt (zur Erinnerung: tam tam tadam, tam tamdidam….). Als wir nun schon reichlich verspätet die Formalitäten vor der eigentlichen Zeremonie hinter uns brachten, wurden wir gefragt, ob wir auch live Musik haben wollten. Wollten wir. Also frisch 600 Rubel (ca. 40 DM) bezahlt, nicht weiter nachgefragt, was die wohl spielen würden, und weiter im Procedere.

Als wir nun feierlich in den eigentlichen Hochzeitssaal einzogen, was glaubt ihr wohl, was da erklang? Richtig: tam tam tadam, tam tamdidam…. Meine Gefühle in diesem Moment lassen sich nur schwer beschreiben. In jedem Fall ist es den jungen Damen des Ensembles geglückt, mir diesen Augenblick unvergesslich zu gestalten – und das war schließlich ihr Anliegen.

Das weitere Geschehen der Hochzeit verlief dann in angenehm ruhigen Bahnen mehr oder minder (gegen Abend spielt mein Magen verrückt) so, wie geplant: Nach dem Standesamt sind wir mit der gesamten Gesellschaft zunächst durch Moskau gefahren, auf ein Aussichtsplateau, von dem aus man einen wunderschönen Blick über die ganze Stadt hat. Dort wurde Sekt getrunken, der Blick genossen und zu den Klängen einer Straßenkapelle getanzt. Da dieser Aussichtspunkt zu den klassischen Besuchsorten von Frischvermählten gehört und der August Hochzeitshochsaison ist, gab es gleich Gelegenheit die gesamte Bandbreite russischer Brautmode zu bewundern (über 50 Paare), was auch ausgiebig absolviert wurde.

Danach ging es weiter in den Jagdclub des russischen Diplomatischen Corps, wo wir über die Beziehungen meines Trauzeugen einen günstigen Preis für erstklassigen Service aushandeln konnten. So gab es ein Billardzimmer mit diversen Trophäen (incl. Eisbärfell zum drauf räkeln), reichlich schmackhaftes Essen und ein Kulturprogramm mit Volksliedern, Akkordeon und Bauchtanz. Seinen Abschluss fand die Veranstaltung im kleinen Kreise, wobei einige Angereiste aus Berlin einen solchen Feierenthusiasmus an den Tag legten, dass die russische Seite mitleidsvoll zu mir meinte: „jetzt verstehe ich dein Problem: deine deutschen Freunde sind genau solche Spritnasen, wie deine russischen…“ Danke die Herren Krehnke und Doblhofer!

Auf Hochzeitsreise waren wir auf der Krim, in der Nähe von Jalta. Es ist dort wunderschön. So muss das antike Griechenland ausgesehen haben, bevor Griechen und Römer es zwecks Flottenbau abgeholzt haben. Wir hatten Mountainbikes dabei und sind bis auf drei Strand-Tage von morgens bis abends durch die Gegend gefahren, wobei man nicht nur Landschaftlich viel geboten bekommt, sondern auch architektonisch. Schließlich war die Krim jahrzehntelang das Ausflugsziel (nicht nur) der russischen Aristokratie. Überall stehen wunderschöne Häuser, Schlösschen und Sanatoriumsanlagen, von denen leider viele in einem bedauernswerten Zustand sind, was aber nicht in erster Linie damit zusammenhängt, dass sie runtergewirtschaftet sind (wie gerne in den Medien bei uns behauptet wird – letztens erst wieder im Spiegel), sondern damit, dass unklare Eigentumsverhältnisse dafür sorgen, dass keiner auch nur eine müde Mark investieren will.

Wie auch immer, die Landschaft auf der Krim ist bergig und vielfältig; felsiges Terrain wechselt mit Nadelbewuchs, mediterranen Landstrichen und dichtem Laubwald, es gibt aber auch wüstenähnliche Gegenden.

Da die dort auch sehr schmackhafte Weine machen – die allerdings sehr süß und aufgesprittet sind (so wie Portwein oder Sherry) – und das Preisniveau auch zur Hauptsaison erträglich ist, kann man die Halbinsel als Reiseziel nur empfehlen. Man muss sich nur davor hüten, in einem der staatlichen Sanatorien zu landen, die wirklich heruntergewirtschaftete Betonklötze sind, sozialistisch-sowjetisch Architekturgeschwüre im Gesicht dieser wunderschönen Landschaft, in denen ein Reglement herrscht wie in einem Straflager strengeren Regimes. Mahlzeiten werden kollektiv in relativ kurzen Zeiträumen eingenommen, wer zu spät kommt kriegt nichts mehr, dass Personal ist (freundlich formuliert) forsch, und um 22.00 fällt offiziell der Vorhang.

Überhaupt ist die Ukraine – so schien es mir – in vieler Hinsicht noch viel sowjetischer als Russland, was schon mit den Visaformalitäten beginnt (die Geschichte spare ich mir aber) und mit dem politischen System endet. Wie meinte letztens ein russischer Satiriker: „Wenn wir Russen glauben, dass es uns schlecht geht und sich bei uns nichts vorwärts bewegt, reicht es nach Süden zu schauen und wir wissen, dass es uns noch gut geht…“

Als kleine Dreingabe haben sie uns am Flughafen noch um 60$ besch…. Wir hatten wie gesagt Fahrräder dabei, die uns von der Fluggesellschaft von Moskau bis Semfiropol kostenlos mitgenommen wurden, mit der Versicherung, solange sie das Gewicht nicht überschritten, müssten wir nichts extra bezahlen. Auf dem Rückflug weigerte sich dann der örtliche Check-in Chef, unter Hinweis auf irgendwelche obskuren Vorschriften, die Räder einzuchecken, wenn wir pro Rad nicht 30$ Gebühr für Übergröße zahlten. Da wir schon ganz gerne die Räder mit nach Moskau nehmen wollten, mussten wir also in den sauren Apfel beißen.

Beim Zoll wurden dann alle (!) meine Cassetten einer genauen visuellen Inspektion unterzogen. Auf Nachfrage hieß es, ich könnte ja rassistisches, staatsfeindliches oder umstürtzlerisches Material befördern. Mal abgesehen davon, dass in einem Hanni&Nanni-Cover auch ein Tape mit Hitlerreden stecken könnte, war die Sache besonders bizarr, da der gute Zollbeamte weder Englisch noch Deutsch sprach, also die Beschriftungen meiner Tapes eh nicht verstand und auf praktisch allen Tapes (wer meinen Musikgeschmack kennt, weiß das) zu Punk-, Metal- oder Ska-Klängen gegen Staat, Kapital und Ähnliches gewütet wird. Staatsfeindlicher geht’s kaum noch, ich durfte aber, nachdem ich alle meine Sachen aus- und wieder eingepackt hatte ungehindert passieren. Es ging wohl eher darum, Staatsmacht zu demonstrieren und Gelegenheit zur Schmiergeldzahlung zu bieten.

Dazu passt auch, dass in der Ukraine die Verkehrspolizei (wie in Russland der korrupteste Verein überhaupt) abgekürzt „DAJ“ heißt, was in großen Lettern auf jedem ihrer Autos steht und der Imperativ des russischen Wortes für „geben“ ist, also „gib“. Besser hätte man die Jungs kaum betiteln können.

Seit Anfang November ist Sveta nun in Moskau, wir mieten eine Zwei-Zimmer-Wohnung, 42 Quadratmeter, teilrennoviert, russischer Standard (d.h. alles ist doch recht schlicht und vieles improvisiert), fünf Minuten zu Fuß von der U-Bahn, in einem erfreulich grünen Bezirk in Zentrumsnähe (von der Haustür zur Metro und ins Zentrum insgesamt 15 Minuten) für ca. 450$ warm, womit wir ein absolutes Schnäppchen gemacht haben. Dazu kommt, dass unsere Vermieterin eine gute Bekannte ist und wir einen Monat Kündigungsfrist garantiert haben, auch ein großer Vorteil: Mieterschutz bei Privatvermietungen gibt es hier nämlich nicht, viele Leute werden zum Ende der Woche aus ihren Wohnungen geworfen, wenn’s dem Wohnungsbesitzer so passt. Wegen der absolut unsinnigen, nervenaufreibenden und erniedrigenden Meldebestimmungen ist hier kaum jemand ordnungsgemäß angemeldet und kann sich daher bei Kündigung auch nicht wehren, da er sonst ein Verfahren wegen Verstoßes gegen die Meldevorschriften riskiert.

Wie auch immer, die ersten zwei Monate haben Sveta und ich die Wochenenden bei IKEA und Auchan verbracht, um die Wohnungseinrichtung unseren Bedürfnissen entsprechend zu ergänzen. Das verlief ganz ohne jeden Streit, wenn auch nicht ohne Diskussionen, was ja eigentlich optimistisch für das zukünftige Zusammenleben stimmen sollte – jedenfalls beteuern die Freunde hier, ein konfliktfreier IKEA-Besuch mit der Gattin beweise, dass der ideale Partner gefunden wurde. Jetzt fehlt nur noch der Teppich, den ein Kumpel für lau aufzutreiben versprach. Ist einen Monat her und er war reichlich betrunken, wahrscheinlich sollten wir da mal nachhaken…

So, zum Abschluss noch ein paar Kleinigkeiten:
– Letztens sah ich, dass auf Mannschaften-transportierenden LKWs der russischen Armee in großen Buchstaben „Menschen“ steht (so wie auf anderen Lastern „Geflügel“ o.ä.). Ist eine Sicherheitsmaßnahme, doch kam mir der Gedanke, dass dies auch eine gute Erinnerung für die Offiziere sein könnte, mit wem sie es zu tun haben. Scheinen die nämlich öfters mal zu vergessen. Vor zwei Wochen gab es hier einen Skandal (der nur zufällig aufflog, weil ein Journalist entgegen allgemeiner Anweisungen trotzdem darüber berichtete), bei dem 200 Wehrpflichtige in einer Transportmaschine aus Moskau nach Magadan (Nordostrussland) geflogen wurden. Die Jungs trugen ihre Zivilkleidung, die den damaligen Temperaturen in Moskau (-3 Grad) entsprach. Bei einem Zwischenstopp zum Auftanken in Sibirien wurden die armen Wichte nun gezwungen auszusteigen und bei minus 20 Grad drei Stunden auf dem Rollfeld zu stehen. Am nächsten Morgen beim Apell in Magadan waren zwei Wehpflichtige tot und neunzig mussten mit Lungenentzündung ins Krankenhaus.

– Ein Kumpel von mir hat sich vor nicht allzu langer Zeit einen Jeep gekauft, was hier so etwas wie eine Neureichenschüssel ist. Da er noch recht unsicher fährt, bat er mich, bei einem Werkstattbesuch den Wagen zu pilotieren weil ich mit den engen Einfahrten und Hinterhöfen besser zurechtkomme. Ich hatte gerade wieder einmal sehr kurze Haare und zudem noch eine schwarze Lederjacke an, was mir, zusammen mit meinen 186 cm Körpergröße, etwas von einem typischen russischen Bodyguard gibt (allerdings reicht es nicht ganz für die fast zwei Meter in die Breite, die in dem Job üblich sind). Während zwei der Mechaniker die erbetenen Wartungsarbeiten durchführten, saßen wir mit dem Rest der Belegschaft in einem Seitenraum der Werkstatt, tranken Tee und plauderten über das Leben in Deutschland und Russland. Nach Beendigung der Reparatur stieg ich schon in den Wagen, um ihn aus dem engen Werkstatthof zu manövrieren während Mischa bezahlte. Kaum war ich außer Hörweite, fielen die Mechaniker begeistert über Mischa her: „Ey Alter, du musst ja ordentlich Kohle haben, wenn du dir einen Deutschen (!) als Chauffeur (!) leisten kannst. Sehr lässig von dir!“ Mischa hat versucht ernst zu bleiben, hat was von Fernsehbusiness gemurmelt und ist dann im Auto vor Lachen zusammengebrochen…

– Als Sveta kurz vor ihrem Umzug nach Moskau in einer Apotheke in Novosibirsk anstand, verlangte der Typ vor ihr 100 Viagras. Als die Verkäuferin ihn darauf hinwies, dass bei einem derartigen Verbrauch vielleicht ein preisgünstigeres Potenzmittel zu empfehlen wäre, war die Antwort: „Was heißt hier Potenzmittel? Nach einer durchzechten Nacht zwei von den Pillen mit einem halben Liter Bier runtergespült und man fühlt sich wie neu. Das andere Zeug taugt dazu nicht.“ Tja wenn Pfizer wüsste, wozu ihr Paradeprodukt in der russischen Provinz benutzt wird…

– Sollte wer von Euch mal das Buch „Moskau – Petuschki“ gelesen haben, ich bin genau diese Strecke zwei Monate lang jede Samstagnacht zu zwei Dritteln in genau jenem Nahverkehrszug gefahren, von dem das Buch handelt, ohne allerdings die berüchtigten (und kurz vor Weihnachten in einer Reportage des deutschen Fernsehens wieder publikumswirksam und propagandistisch überzogen dargestellten) Alkis zu sehen, die angeblich in Massen diese Züge bevölkern.

Naja, auch ein Spriti hat mal Dienstschluss und ich war immer erst in der letzten „Elektritschka“. Dafür zogen zweimal marodierende Skin-Horden durch den Zug, die alle möglichen Leute belästigten und – wo nur möglich – Sachbeschädigung begingen. Mich ließen sie in Ruhe, da ich meine Eishockeysachen dabei hatte und Hockeyspieler in Russland als kräftig und nicht gerade konfliktscheu gelten. Außerdem schmerzt so ein Schläger in der Fresse ja auch ungemein, selbst wenn man für Volk und Vaterland prügelt. Es gibt in Russland tatsächlich Skinheads, die nicht nur rassistisch und white-power-orientiert sind, nee, die schmücken sich auch noch mit Hakenkreuzen und brüllen „Sieg Heil“ dazu. Wenn das der Führer wüsste… Russen, die begeistert die Ideologie Ihrer Möchtegernunterdrücker nachbeten (wobei allerdings das Anti-Slavische eher ausgeblendet, bzw. die Slaven zu Quasi-Ariern gemacht werden) und dafür auch Morde begehen (wie letztens in Petersburg, wo ein 11 jähriges Mädchen von Skins erstochen wurde). Angesichts solch brunzdummer Stumpfheit kann man eigentlich nur noch weinen.

Warum die Hockeykelle dabei? In diese für nicht-Russen doch eher ungewöhnliche Umgebung kam ich übers Eishockey: Seit Mitte Oktober habe ich Samstag abends in einer Kleinstadt 50 km vor Moskau mit dem romantischen Namen „Elektrostahl“ in der Hobbytruppe eines Kumpels Eishockey gespielt, bin dann regelmäßig mit der letzten „Elektritschka“ nach Hause gefahren und habe so einen Teil Russlands kennengelernt, der Ausländern sonst eher verborgen bleibt. Elektrostahl ist übrigens entgegen ihrem Namen architektonisch eine ganz nette Kleinstadt (bevölkerungssoziologisch betrachtet allerdings eine Ganoven-Hochburg mit sogar für Russland bemerkenswerter Kriminalstatistik), in deren Zentrum sich echter mit stalinistischem Pseudo-Klassizismus mischt, dazu allenthalben gemütliche Alleen. Besichtigen durfte ich das ganze eines Abends, als die letzte Bahn schon weg war und mein Kumpel, bevor wir zu Ihm zum Schlafen fuhren, mit erstaunlichem Eifer eine Stadtrundfahrt von 23.30 bis 1.30 nachts improvisiert, sich vor Begeisterung kaum einkriegte und nicht verstand, dass meine Euphorie nach zwei Stunden Anreise, anderthalb Stunden Geschliddere und der Aussicht, am nächsten Morgen um 7.00 aufstehen zu müssen, um das nächste Training um 11.00 in Moskau noch pünktlich zu erreichen, bei einer Stadtrundfahrt im Scheinwerferlicht des Autos zu Mitternachtszeit doch etwas gedämpft ausfiel. War aber eigentlich hochspannend.

Eishockey ist hier überhaupt etwas anderes als in Deutschland. Selbst angejahrte Rentnertruppen spielen hier was Technik und Geschwindigkeit angeht auf einem Niveau, was weit über dem liegt, was ich so im Schnitt in Dtl gesehen habe. Allerdings hatte ich auch das Vergnügen, mit einem Ex-NHL-Spieler und einem ehemaligen Olympiasieger in Eisschnellauf zu spielen (letzterer hatte übrigens seine ersten internationalen Erfolge im Eisstadion Wilmersdorf in Berlin), aber auch der durchschnittliche bierbäuchige Familienvater, der vor jedem Spiel noch ne Zichte und `n Kaffee genießt, ist erschreckend hurtig und beschlagen dabei. Inzwischen habe ich das Glück gehabt, 15 Minuten Fußweg von unserer Wohnung in der glorreichen Trainingshalle von ZSKA Moskau (da haben so Helden wie Tretyak und Fetisov trainiert) eine Hobbytruppe gefunden zu haben (keine mehrstündige Anfahrt mehr), die bis auf einige Ausnahmen eher entspannt zur Sache geht, was mir die Chance gibt, nicht nur als Slalomstange am Geschehen teilzuhaben und somit den Spaßfaktor doch erheblich steigert.

Okay, das soweit. Die Geschichte, dass Sveta Dank bürokratischer Dummheit, obwohl sie meinen Familiennamen angenommen hat, laut Reisepass nicht Siewert, sondern Zivert heißt und wir deshalb in Deutschland vorerst unsere Eheschließung nicht anerkannt bekommen, erzähle ich das nächste Mal. Ich muss mich sputen, da in zwei Stunden mein Zug geht, ich fahre nämlich übers Wochenende zu einer Geburtstagsfeier ins 1300 km entfernte Kasan. Teil der Feier ist der Besuch des Eishockeyspiels Magnitogorsk-Kasan (zwei der besten Teams in Russland). Die Gemahlin sitzt derweil zu Hause in Moskau und schreibt an ihrer Abschlussarbeit für ihren MBA in IT-Management.

Freundschaft!

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