London Calling, Sommer 2011
Die Luft ist heiß und stickig zum Schneiden, der Saal vollkommen überfüllt, streng-säuerlicher Schweißgeruch und Sauerstoffmangel lassen einen die Szenerie bald nur noch wie durch einen Nebel wahrnehmen, Rinnsale laufen den Rücken herunter, die Menge der Wartenden staut sich schon weit vor dem Eingang des Raumes. Babys schreien, ältere Kinder quengeln, Schwangere und Ältere halten sich mühsam auf den Beinen. Die Schlangen vor den Passkontrollschaltern bewegen sich in etwa so oft vorwärts, wie in Deutschland korrupte Abgeordnete oder größenwahnsinnige Banker persönliche Verantwortung für ihr Handeln tragen müssen – praktisch nicht.
Jeder der Ankömmling wird der gleichen Prozedur unterzogen: misstrauisches Beäugen des Passes, ebensolches Studium des Passinhabergesichts, nochmalige Prüfung des Dokuments, oft gefolgt von einem Kurzverhör über Sinn und Zweck der Reise und der Aufforderung, diverse Tickets und Fahrscheine vorzulegen. Zuweilen werden Fingerabdrücke genommen. Schnellere Abfertigungsschalter gibt es nur für jene, die von den Obrigkeiten für wichtig gehalten werden: Diplomaten, Geschäftsleute oder wem Geld und Beziehungen sonst noch erlauben, sich über die Masse der Sterblichen zu erheben.
Eine gesonderte Abfertigung für Mütter mit Kindern, Schwangere und Gebrechliche gibt es nicht. Deren Fragen, ob sie sich in die „fast lane“ einreihen dürften, werden von den streng blickenden Grenzern in der Wortwahl formelhaft-höflich, im Ton jedoch bestenfalls barsch zurückgewiesen.
Dies ist nicht die Einreise an einem Provinzflughafen einer arabischen Despotie oder zentralasiatischen Quasi-Diktatur. Es ist die Passkontrolle in London-Heathrow, mithin mitten in Europa.
Obwohl: bei Lichte betrachtet ist es tatsächlich nicht mehr Europa – geographisch doch eher eine in der realwirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit versinkende Insel vor der französisch-belgischen Küste, politisch – wie schon New Model Army in den 80ern sangen – der 51. Staat der USA, charakterisiert durch liebenswürdig-skurrile Schrullen seiner aboriginären Bevölkerung und besondere Servilität gegenüber der Regierung in Washington.
Mit Europa haben die echt nichts mehr gemeinsam. Allein die Visaprozedur für meine Frau: OK, Svetlana ist Russin, daher schon verdächtig (womöglich Kommunistin, oder Prostituierte – obwohl, wenn letzteres, würden davon potentiell hauptsächlich irgendwelche Oberklassen-Schnösel profitieren, wäre also nicht so schlimm), allerdings seit acht Jahren mit einem EU-Bürger verheiratet, hat mit dem ein Kind, sie ist IT-Ingenieurin mit Arbeitserfahrung bei der EBRD und einer anderen westlichen Bank, sie ist in Besitz einer Zehnjahres-Aufenthaltsgenehmigung mit Arbeitserlaubnis für Österreich, wo sie seit vier Jahren wohnt. All dies zählte gar nichts, es interessiert nur dass sie aus dem – nach Lesart des britischen Staates – Reich der Kommies, Nutten und Mafiamilliardäre kommt (wobei Letztere keine Probleme haben ins Land zu gelangen, sie bringen ja genug Geld mit).
Also musste zunächst bei einer sündhaft teuren Hotline angerufen werden, bei der uns erklärt wurde, welchen Antrag sie aus dem Internet herunterladen und ausfüllen müsse. Dazu seien eine Bescheinigung meines Arbeitgebers über meine Beschäftigung und Gehalt, Nachweise über Krankenversicherung, Meldung, legalen Aufenthalt in Wien sowie Belege unserer gesamten (!) finanziellen Situation einschließlich Finanzstatus aller unser Konten, aber auch Mietkosten u.ä. in englischer Übersetzung beizubringen.
Der Fragebogen war ein Dokument bürokratischen Irrsinns und gezielter Erniedrigung des Antragstellers – schlimmer als alles, was ich auf all meinen Reisen jemals gezwungen war, auszufüllen. Sogar die Sowjetunion betrieb 1988 mir als Klassenfeind gegenüber weniger impertinente Schnüffelei als das Vereinigte Königreich 2011 bei der Erteilung eines einfachen Touristenvisums für die gut ausgebildete russische Ehefrau eines EU-Bürgers, die schon seit Jahren legal in Europa wohnt: Sechzehn (!) Seiten waren zu füllen, zunächst mit genauen Informationen zu Svetlanas Eltern, deren Herkunft und Familie, der Anzahl der im Laufe ihres Lebens bisher erhaltenen Pässe mit Passnummer (wer weiß noch die Nummer seines Passes von vor 20 Jahren? Bitte melden!) und Auskunft über deren Verbleib.
Es folgte die ebenso alberne wie absurde Seite zum Thema Terrorismus: „Beabsichtigen Sie, terroristische Akte im Vereinigten Königreich durchzuführen?“ – klar, das ist mein Hobby, jedes Jahr ein Blutbad in einem anderen Land, wenn nur das Semtex gut durch den Zoll kommt. „Haben Sie jemals Meinungen vertreten oder in Medien publiziert, die terroristische Aktivitäten bewerben oder gut heißen?“ Jetzt wird es figgeliensch: was genau ist hier Terrorismus? Macht einen etwa ein Praktikum bei der FAZ, die jahrelang die Contras in Nicaragua und ihr Treiben – willkürliche Entführung, Folter, Vergewaltigung, Ermordung von Zivilpersonen – ideologisch als Helden im Kampf gegen den Kommunismus unterstützt hat, zum Advokaten der Finsternis?
Sperrt einen das alkoholbedingte, krawallgestimmt-provokative Vertreten nordirisch-loyalistischer Positionen zu vorgerückter Stunde in feucht-fröhlicher Runde auf ewig aus dem Land aus, dessen Politik über vierhundert Jahre die geistige und materielle Grundlage für UVF und UFF gelegt hat? Oder ist es wie immer bei uns im freiheitlich-demokratischen Westen: einmal in einer Studentenstreikpostille der späten 80er die Sandinisten hochleben lassen – und schon mit dem Makel der eventuellen Terrorismusfreundlichkeit behaftet, während Unterstützung und Lobpreisung rechtsgerichteter, CIA-bezahlter Todesschwadrone als Dienst an der Demokratie gelten? Fragen über Fragen!
Also einfach zur Sicherheit alles mit „nein“ beantworten.
Und dann der Gipfel: „wann haben sie den EU-Bürger das erste Mal getroffen“ – genaues Datum erbeten. Und das neun Jahre nach unserem Zusammentreffen (wer weiß noch genau welchen Tag er seine Frau/seinen Mann zum ersten Mal gesehen hat?)!
Aber es wurde noch besser: „Wann genau hat Ihre Beziehung zu dem EU-Bürger begonnen?“ Gegenfrage: Meinen die jetzt nur Poppen oder auch Reden? Oder umgekehrt?
„Wie halten Sie mit dem EU-Bürger Kontakt? Svetlana hat eisern „reden“ reingeschrieben – wir sind verheiratet und wohnen zusammen! Und so weiter, und so weiter…
Nachdem also diese Irrsinnsaugeburt eines unterbeschäftigten Bürokratenhirns so gut wie möglich ausgefüllt war und auch der ansehnliche Stapel geforderter Begleitdokumente und ihrer englischen Übersetzungen vorlag, machten wir uns hoffnungsfroh auf den Weg zum Konsulat, wobei sich unser Optimismus als voreilig und naiv erwies: Am Eingangstor klärte uns ein freundlich-mitfühlender österreichischer Wachmann darüber auf, dass der von uns ausgefüllte Fragebogen nutzlos sein, wir stattdessen ein online-Verhör über uns ergehen lassen müssten, nachdem wir innerhalb von einer Woche einen Termin angewiesen bekämen, wann wir vorzusprechen und unser Ansinnen untertänigst vorzutragen und den petitionsempfangenden Beamten durch Beibringung möglichst vieler der geforderten Belegdokumente positiv zu beeinflussen hätten.
Auf die Frage, warum uns über die angewiesene Hotline für teures Geld anderes gesagt wurde, flüsterte der gute Mann uns zu: „Es geht hier doch nur
darum, die Leute zu erniedrigen, es ihnen schwer zu machen und ihnen die Lust am Visa-Antrag zu nehmen“.
Also, so instruiert noch einmal auf „Los“, d.h. die Site des britischen Visaservices angeklickt, nach längerem Suchen den entsprechenden Fragebogen gefunden, ausgefüllt und abgeschickt – und gewartet. Nach einigen Tagen wurde uns ein Interview-Termin zugewiesen, den wir dann, beladen mit einem ansehnlichen Papierstapel, (sogar- entgegen meiner üblichen Gewohnheit – nicht 15 Minuten zu spät sondern pünktlich) ansteuerten.
Vor Ort waren noch einige Papiere auszufüllen und dann waren wir an der Reihe: Alle eingereichten Dokumente wurden genau untersucht (immerhin bekamen wir Lob, dass wir gleich beim ersten Mal alles dabei hatten, dies gelänge nur wenigen) und dann wurde Svetlana – obwohl sie ein Foto einreichen musste – noch einmal von zwei Seiten fotografiert wie ein Verbrecher beim Erkennungsdienst, und alle ihre Fingerabdrücke wurden eingescannt. Es geht hier, wir erinnern uns, um ein simples Touristenvisum für die Ehefrau eines EU-Bürgers, die schon seit Jahren legal in der EU lebt.
Nachdem diese erniedrigende Prozedur beendet war, hieß es, wir bekämen innerhalb der nächsten sechs Wochen bescheid, in Wien könne man aber nichts sagen, das würde in Warschau entschieden. Als wir das Visum dann tatsächlich in den Händen hielten, stand doch tatsächlich ein Verweis in der Art, dass Svetlana nur zusammen mit dem ihr angetrauten EU-Bürger einreisen dürfe.
Aber immerhin: das Vereinigte Königreich (aus dem sich die Schotten wohl demnächst klugerweise verabschieden werden) hatte meiner Frau die unendliche Gnade erwiesen, ihr einen zweiwöchigen Urlaub in seinen heiligen Gefilden großmütig zu gestatten. Und so stehen wir nun hier an der Passkontrolle in Heathrow, lernen, dass auch mitteleuropäische, angeblich zivilisierte Demokratien in der Lage sind, Empfangszeremonien zu inszenieren, die unsereins innerhalb Europas für überwunden glaubte und die sonst eher mit zweifelhaften Staatsgebilden in Verbindung gebracht werden und warten, dass man uns die Gunst erweise, unsere per se verdächtigen, weil nicht britischen, Papiere zu überprüfen.
Endlich, der Brechreiz – vor Wut oder Sauerstoffmangel, oder beidem – meldet sich seit geraumer Zeit immer nachdrücklicher, sind auch wir dran. Bei mir ein kurzer Blick in den Pass, misstrauisches Beäugen des Passinhabers (diese Kontinentaleuropäer sind eh alle verdächtig, könnten ja – Gott bewahre! – für die EU arbeiten), dann unwirsches Durchwinken.
Aus einem unguten Bauchgefühl heraus bleibe ich in der Nähe: Svetlanas Pass und Visum werden erst genauestens untersucht, dann Fragen: warum, wieso, wohin, wann, wie usw., usw. Ich mische mich ein: sie sei meine Frau, wir reisten zusammen, Urlaub: erst London, dann zu Freunden nach Schottland. Das Grenzorgan wendet sich mir zu – wenn Blicke töten könnten! Allerdings hat sie jetzt keinen rechten Grund mehr zur Fortsetzung der hochnotpeinlichen Befragung. Da zieht sie ihren letzten Trumpf: Svetlana muss sich nun noch einmal frontal und im Profil fotografieren lassen, und auch die Fingerabdrücke werden wieder einmal genommen.
Damit das klar ist: Du bist verdächtig und wahrscheinlich kriminell weil nicht britisch, aber wir haben Dich ständig unter Kontrolle Du zweifelhaftes Element. Dann endlich dürfen wir passieren und unsere harmlose Urlaubsreise innerhalb der EU fortsetzen.
Es bleibt die Erkenntnis: Ein Volk, das derartiges veranstaltet um daraus Selbstwertgefühl zu ziehen, hat seinen kulturellen Höhepunkt seit langem überschritten. Gleichzeitig ist inzwischen halb Belgravia aufgekauft von russischen Mafiagrößen, halbseidenen „Bisnesmeny“, Korruptionsvirtuosen und tschetschenischen Warlords. Aber die bringen ja Geld mit. Dessen Herkunft ist egal, Hauptsache: Geld – so ist die Visavergabe Ausdruck der würdelosen Koofmich-Mentalität einer vollständig der Mammon-orientierten Degeneration anheimgefallenen ehemaligen Kulturnation.