Moskau Report (Spätherbst 2007)
Moskau Report (Spätherbst 2007)
Als Abschluss der Moskaureports hier eine Sammlung allerlei Absonderlichkeiten der letzten anderthalb Jahre. Wie schon angekündigt, wird dies der vorletzte Moskaureport, ob weitere, sagen wir, Wienreports folgen, ist noch nicht abzusehen. Okay, die Ösis sind ein sonderbares Volk, keine Frage, aber ob sie einen Unterhaltungswert wie das Leben in Russland und „nahem Ausland“ (Russisch für „Ex-Sowjetunion“) bieten, wird sich zu zeigen haben. Natürlich könnte ich jetzt alle möglichen Slowenien-, Polen-, Bosnien-, Kasachstan-, usw.-Berichte schreiben, je nachdem, wo mich mein Broterwerb gerade hinverschlagen wird, aber ich fürchte, meine Aufenthalte dort werden doch eher büroorientiert und somit deutlich gebremster interessant sein. Wir werden sehen.
Nun aber zu den wundersamen und bemerkenswerten Begebenheiten deren von der Familie Siewert zu Moskau höchstelbst dero Loci erlebt oder so ihnen von Amici reportieret (ich lese gerade die Wallensteinbiographie von Golo Mann, da wird dauernd so ein Stil zitiert, das färbt ab; macht einen Heidenspaß so zu schreiben, ist aber mächtig anstrengend, also lass ich’s besser):
Letzten Oktober sind Svetik und ich mit dem Zug nach Petersburg gefahren, das Wochenende dort mit Freunden zu verbringen. Wie üblich in diesem Falle, hatten wir Tickets für den Freitagabendzug erstanden, so dass wir am Samstag früh ankommen und nach einem kurzen Nickerchen (fünf Stunden Schlaf sind in unserem Alter denn doch etwas wenig) das Wochenende Zeit für mehr oder minder sinnvolles touristisches Tun haben würden.
Wir betraten das leere Abteil und richteten uns ein. Wenig später schaute eine junge Frau zur Tür hinein, begann zu strahlen und rief auf den Gang hinaus: „Alles in Ordnung, los komm her!“ Ein etwas korpulenter, geringfügig angetrunkener Mann mittleren Alters erschien hinter ihr, nickte sichtlich zufrieden, grüßte und setzte sich auf die zweite untere Pritsche (auf der anderen saßen wir). Sie fragte sofort, was er trinken würde (Vodka!) und was wir wollten. Als wir zögerten, hieß es: “Geht auf uns.“ Na dann! Frisch Bier bestellt und das Gemaule des Mitreisenden, er habe doch nun niemanden zum anstoßen, ob wir nicht lieber Vodka…, mit der Bemerkung abgewürgt, wir würden in „Piter“ (so heißt die Stadt hier im Volksmund) zurechnungsfähig erwartet. Die junge Dame resolut den Schaffner ins Abteil zitiert und die Bestellung aufgegeben, mit dem Hinweis es sei sehr dringend. Und tatsächlich, noch vor der Abfahrt waren wir mit Getränken samt passendem Knabberwerk versorgt. Nach dem gegenseitigen Vorstellen erfragten Svetik und ich den Auslöser ihres heftigen Enthusiasmusausbruchs samt Spendierlaune bei unserem Anblick. Wie sich herausstellte, waren sie kein Paar, wie zunächst von uns angenommen, sondern Chef und Sekretärin einer Petersburger Schmuckfirma, die zweimal monatlich beruflich nach Moskau fuhren. Dabei saßen sie bisher „jedes Mal, ob ihr es glaubt oder nicht, verdammte Scheiße, wirklich jedes Mal“ mit griesgrämigen Paaren, bestehend aus Mutter und Tochter, bzw. Oma und Enkelin im Abteil, die sie entweder feindlich ignorierten, oder trotz formaler Höflichkeit ihrem Widerwillen und ihrem Misstrauen deutlich Ausdruck zu verleihen wussten: Chef mit Sekretärin auf Dienstreise – ein Schelm, wer Arges dabei denkt -, die auch noch zur Entspannung einen heben. Ich hatte vollstes Verständnis, da ich derartiges Mitreisepersonal, das üblicherweise eine unglaubliche Virtuosität demonstriert, einem jeden Spaß an der Zugfahrt abzudrehen zu gut kannte. Besonders ungerecht wurde von den beiden die im Raum müffelnden moralisch niedrigen Insinuationen empfunden, da zwischen ihnen, trotz eines fast familiären Verhältnisses, definitiv nichts lief und sie nach mehreren Tagen pausenloser Geschäftsverhandlungen einfach etwas entspannen wollten. An jenem Tage hatten sie sich schon auf dem Weg zum Bahnhof verdrossen ausgemahlt, mit welchem Panoptikum post-sowjetisch-proletarischer Anständigkeit und Selbstgerechtigkeit sie diesmal wohl zu reisen hätten. Was für eine Freude als wir dann da saßen, junge Leute, die ebenfalls dem alkoholischen Getränk nicht abgeneigt waren. Freilich entsprach meine Ablehnung des Vodkas nicht ganz der Traumvorstellung vom idealen Reisegefährten, aber Hauptsache war, dass es überhaupt zum Umtrunk kam. Tatsächlich gestaltete sich der weitere Verlauf des Abends recht unterhaltsam. Irgendwann zückte die Sekretärin das Taschentelefon, wählte eine Nummer und sprach in den Hörer nur folgende kryptische Worte: „Sind planmäßig unterwegs, kommen pünktlich an, brauchen zwei Katafalkwagen und vier Träger“. Die Gattin und ich stutzten. Gelächter bei den anderen: „Lasst euch überraschen“. Inzwischen war der Chef so weit, dass er von seiner Angestellten im Bettzeug verpackt und zur Nachtruhe abgelegt wurde, was geradezu mütterlich-fürsorglich geschah, und auch wir legten uns schlafen.
Morgens um 6.00 rüdes Wecken durch die Schaffnerin. Derweil wir noch schwankend und benommen vor uns hinstarrend auf unseren Pritschen dämmerten, griff unser Mitreisender beherzt zur Vodkaflasche, die er am Vorabend nicht ganz geschafft hatte, nahm einen kräftigen Schluck und bestand dann, unterstützt von seiner Angestellten, darauf, dass wir das Ding nun alle gemeinsam leer machten. Gleich nach dem Aufwachen auf nüchternen Magen Vodka, nur mit Weintrauben als „Zakuska“ – eine Prüfung! Zum Glück war ich einfach noch zu tranig um eine Wirkung zu verspüren. Allerdings schlich sich eine gewisse Sorge in mein Herz, wie wir um diese Uhrzeit in unserem Zustand in das uns erwartende Petersburger Quartier gelangen sollten.
Bein Aussteigen in Petersburg dann die Überraschung: dort standen vier Gestalten, die unsere Mitreisenden begrüßten und danach entschieden und routiniert von der Sekretärin angewiesen wurden: „So, du nimmst die beiden und fährst sie hin, wo sie wohnen. Ihr anderen drei helft mir die Sachen und den Chef zum Auto zu tragen, dann ihn und am Ende mich nach Hause.“ Herzliche Verabschiedung bevor das sonderbare Kommando in den Bahnhofshallen verschwand. Wir strebten mit „unserem“ Fahrer zu dessen Auto und er lieferte uns an der uns als Herberge bedeuteten Adresse ab. Als ich fragte, was ich schuldig sei, hieß es: „Ist schon bezahlt.“
Während wir uns noch erstaunt freuten, betraten wir die Wohnung – und waren sprachlos: Die Bleibe gehört Svetlanas jetzigem Arbeitgeber und war für ein Taschengeld von denen in den 90ern als Unterkunft für Dienstreisende der Bank und als Investition gekauft und recht aufwendig renoviert worden. Ein Palast. Unser Schlafzimmer war ungefähr 40 qm groß, das Wohnzimmer bestimmt 60qm, die Decken vier Meter hoch und mit aufwendigem Stuck verziert. Sogar eine eingebaute Sauna gab es. Und das alles mitten im Zentrum von Petersburg und von uns umsonst zu nutzen, was bei mir als sparsamen Menschen den Spaß an alledem natürlich enorm steigerte. Es war angesichts dieser Räumlichkeiten fast schon schade überhaupt auf die Straße zu gehen und nicht die ganze Zeit begeistert durch die Zimmerflucht zu galoppieren.
Bei unserer Rückkehr nach Moskau erwartete uns als Abschluss des Wochenendes noch ein possierliches Erlebnis: Als wir in unserem Haus den Lift auf der von uns bewohnten Etage verließen, stand dort vor der verschlossenen Korridortür eine Gestalt, in Fandevotionalen des ZSKA Moskau gewandet, und schnarchte. Der ganze Treppenabsatz war erfüllt vom Aroma russischer Destilierkunst. Mit anderen Worten, dieser wackere Schlachtenbummler hatte derartig geladen, dass er im Stehen schlief. Ungelogen! Im Stehen! Wir drückten uns kichernd vorsichtig an ihm vorbei und verschlossen wieder die Tür hinter uns. Am nächsten Morgen war er dann verschwunden. Wir vermuten, er wohnte im Nachbarhaus, das genau wie unseres aussieht, hatte die heimische Haustür um gerade mal 50 Meter verfehlt (nicht viel, wenn man seinen Zustand bedenkt!), war per Lift bis in den achten Stock vorgedrungen und wunderte sich nun, dass er den Korridor, von dem seine Wohnung abging, nicht öffnen konnte. Zumal optisch auch kein nennenswerter Unterschied zu bemerken war, da sich die Häuser jeweils einer sowjetischen Baureihe fast gleichen wie ein Ei dem anderen. Es gibt da sogar eine sowjetische Fernsehkomödie zu dem Thema, die Dinner-for-One-gleich jedes Jahr zu Silvester im Fernsehen läuft. Sie beginnt mit den Worten „Wir bauen in jeder Stadt die gleichen Bezirke, mit den gleichen Straßen, den gleichen Straßennamen, den gleichen Häusern, den gleichen Wohnungen und den gleichen Möbeln…“ Der Held betrinkt sich am 31.12. mit seinen Freunden in der Banya, gerät im Vollrausch ins Flugzeug von Moskau nach Leningrad, fährt dort „zu sich nach Hause“, da es dort eben jenen „gleichen Bezirk, mit den gleichen Straßen…“ wie in Moskau gibt. Sogar sein Schlüssel passt für die entsprechende Wohnung. Und die Komödie nimmt ihren Lauf… Wir haben quasi eine Realvariante dieses Sujets bestaunen dürfen. Nur dass hier der Schlüssel nicht passte und der Held statt mit einer hübschen Blondine unterm Neujahrsbaum mit einem Mordsbrand im stets streng riechenden Treppenhaus aufgewacht sein dürfte.
Obwohl… In unserem Haus ist so einiges möglich: So habe ich hier der wollüstig lockenden Versuchung widerstanden! Eines abends letzten Sommer kehrte ich vom Biertrinken mit einem Kumpel heim (nein, diesmal war ich so gut wie nüchtern!). Es war ein lauer, ruhiger und angenehmer Abend gewesen. Die Gattin war auf Dienstreise und ich beschloss, einmal etwas früher die Nachtruhe einzuläuten. Beim Betreten des Hauses wurde ich dreier junger Damen ansichtig, die eindeutig euphorisiert des Aufzuges harrten. Ich trat an die Gruppe heran und wünschte artig einen guten Abend, was ebenso beantwortet wurde. Danach schweigen, offensichtlich wohlwollendes Mustern durch die andere Seite. In Ermangelung anderer Beschäftigungsmöglichkeiten tat ich es ihnen gleich: Alle drei waren so Anfang/Mitte zwanzig, zwei davon durchaus attraktiv und gutaussehend, eine eher unscheinbar, gleichwohl sich nicht als Kandidatin zur potentiellen gemeinsamen Verwirklichung moralisch niederer Ansinnen disqualifizierend. Während ich noch so vor mich hinsann, erklang unversehens unter schelmischem Lächeln die neckisch-laszive Frage: „Sie sind nicht zufällig ein Sittenstrolch?“ „Ich? Nein.“ „Ohh, schade!“ Im weiteren nahm die Unterhaltung nun die Wendung, dass ich ja den Sittenstrolch durchaus nur für den Abend geben könnte. Mein Hinweis auf eheliche Bindung wurde mit der Frage gekontert „In Deutschland oder hier?“ (mein Akzent hatte meine Herkunft inzwischen verraten) und dem Hinweis, dass Deutschland ja weit sei und nicht zähle. Inzwischen war der Lift eingetroffen, wir eingestiegen und näherten uns meiner Etage. Zum Abschied wurde mir noch die Wohnungsnummer, -Etage und -Lage genannt, verbunden mit dem deutlichen Wink, vielleicht sehe man sich den Abend noch. Ich ging jedoch züchtig ins eigene Bett, nicht einmal mit sündigen Gedanken spielend; naja, so gut wie nicht. Erst am nächsten Morgen wurde mir ernsthaft klar, dass ich die Chance auf Erfüllung wüster Teenagerträume ungenutzt hatte verstreichen lassen. Und dabei nicht einen Augenblick schwankend geworden war. Wie gesagt, ich habe der Versuchung widerstanden. Manche jedoch mögen denken, ich sei ein Trottel. Nun ja, der Übergang von Ehrbarkeit zu Torheit ist bekanntlich fließend und oft eine Frage des Standpunktes…
Ach ja, Torheit…. Die Medien hier berichteten von einem Mann der seine Frau im Affekt gemeuchelt und in Ermangelung einer besseren Idee im Kofferraum seines Autos zwischengelagert hatte. Die winterlichen Temperaturen sorgten dafür, dass die nunmehrige Ex schön frisch blieb und nicht zu stinken anfing. Entweder war er extrem vergesslich oder deprimierend phantasielos, jedenfalls kutschierte er die Leiche drei Tage durch die Stadt, ohne sich ihr zu entledigen. Am vierten Tag schließlich fiel der Vorhang: Der Knabe war nämlich mit den Raten seines Kredites für den Autokauf seit geraumer Zeit im Rückstand und die Bank konfiszierte den Wagen. Als die Kreditexpertin dann bei der Begutachtung des Gefährts den Kofferraum öffnete, dürfte ihr rasch klar geworden sein, dass sie von dem Kunden auch weitere 15-20 Jahre keine Rate mehr bekommt.
Torheit zum zweiten. Oder sollte man besser Blödheit sagen…? Entlang einer der größten und meistbefahrenen Ausfallstraßen Moskaus stellte eine Baubrigade weitere der sich fußpilz- und herpesgleich über die ganze Stadt ausbreitenden Reklamewände auf. Allerdings schien es der Truppe entgangen zu sein, dass unter der Straße eine U-Bahnlinie verläuft. Beim Einschlagen der Sockelstehlen verschwand die eine unversehens im Erdreich. Als sei nichts geschehen, packte das Kommando seine Sachen zusammen und versuchte es ein paar hundert Meter weiter noch einmal. Auch hier genügten einige wenige Schläge um den Betonpfeiler zur Gänze in den Grund zu treiben. Diesmal jedoch begleitet von ohrenbetäubendem Knirschen und einem mörderischen Ruck. Die Strategen hatten nämlich die Decke zum U-Bahnschacht durchstoßen und die Pfeiler tief in den Tunnel gerammt. Der erste hing „nur“ von der Decke, quasi als hängender Oberlichtprellbock auf den nächsten Zug wartend, mit dem zweiten hatten sie einen Volltreffer gelandet, der ein Zugdach durchschlagen und die dazugehörige Bahn abrupt zum stehen gebracht hatte. Wie durch ein Wunder wurde niemand ernsthaft verletzt. Sobald die wackeren Handwerksleute bemerkten, dass da irgend etwas schiefgelaufen war, taten sie so, als hätten sie damit nichts zu tun und verkrümelten sich. Bei ihrer Verhaftung waren sie dann tief erstaunt, wie man sie denn gefunden habe. Dass dazu ein Blick in den Einsatzplan reichte, war ihnen nicht in den Sinn gekommen.
In Anlehnung an unser nächtlich-frühmorgentliches Abenteuer in Petersburg noch ein Erlebnis zum Thema nächtliche Fortbewegung durch die Stadt.
Zuvor aber erst einmal eine generelle Bemerkung: Einige Leute scheinen aufgrund der Moskaureports der Meinung zu sein, dass ich hier an 360 von 365 Tagen mehr oder minder heftig dem Alkoholmissbrauch fröne, mithin in einer Zustandspalette zwischen entspannt und fall-duhn durchs Leben mäandere. Weit gefehlt! Ich berichte nur von den besonderen Ereignissen, da die Beschreibung eines durchschnittlichen, übrigens aus Prinzip alkoholfreien, Tages – d.h., 10-12 Arbeit, eine Stunde in der brechend überfüllten U-Bahn zum Büro, abends anderthalb Stunden zurück (aus irgendeinem Grunde dauert’s abends immer länger), Abendessen vor der Glotze, mit der Gattin plaudernd und ins Bett – von eher begrenztem Unterhaltungswert ist. Was natürlich stimmt, ist die Tatsache, dass in Russland außergewöhnliche Ereignisse und Flüssiges sich oft gegenseitig bedingen.
Aber zurück zum Thema: Mein Kumpel Kolja und ich hatten bei einem anderen Spezi, der etwas verkehrsungünstig wohnt, getagt, es war spät geworden und unser Zustand bot unsere verbliebene Barschaft jedem Taxifahrer als reife Betrugsfrucht dar. Dumme Situation, wir wollten nach Hause, wussten aber, dass bei unserer momentanen Verfassung kein Taxifahrer mit Selbstachtung der Versuchung widerstehen können würde, uns gnadenlos auszuplündern. Auf einmal grinste der Gastgeber, wählte eine Nummer und murmelte Unverständliches in Telefon. Nach ein paar Minuten legte er mit dümmlich-triumphierendem Gesichtsausdruck auf, wählte erneut und bestellte mit diabolischem Grinsen ein Taxi. Darauf folgte die Erklärung: „Ein Kumpel von mir ist Co-Chef einer Taxifirma, der schuldet mir noch was. Deshalb hab ich ihn angerufen. Sobald ihr im Auto sitzt, wählt diese Handynummer und gebt dem Fahrer das Telefon. Danach sollte eigentlich alles in Ordnung sein.“ Wir uns bedankt und runter auf die Straße, wo schon das Taxi wartete. Nachdem wir uns endlich platziert hatten (es gab da gewisse Koordinationsschwierigkeiten mit den Sicherheitsgurten), fuhren wir los, derweil ich die magische Nummer wählte. Sobald ich Antwort erhielt, gab ich den Hörer an den Chauffeur weiter, der zunächst etwas irritiert blickte, dann aber das Gerät nahm um innerhalb von Sekunden immer kleinlauter zu werden, Halbsätze murmelnd wie „ja, keine Faxen mit dem Fahrpreis…“, „…nein, keinen Umweg…“, „…und ein Sonderpreis…geht klar“. Danach saß er unfroh und verdrossen hinter seinem Steuer, fuhr Kolja und mich aber für ein – relatives – Taschengeld zu unseren Zielen. Ich stelle mir die ganze Geschichte aus seiner Sicht vor: Er wird in den frühen Morgenstunden irgendwo in die Pampa gerufen, es besteigen zwei rattenstramme Gestalten sein Taxi, er freut sich schon auf fette Beute, zumal die beiden Frohgestimmten auch noch recht weit zu fahren haben. Da greift einer der beiden zum Telefon, wählt unter Schwierigkeiten (die Vorfreude steigert sich zum Frohlocken), fragt „Alexej? Moment…“, gibt ihm das Telefon mit den Worten „Für Sie…“ Und dann bekommt er von seinem Chef einen profilaktischen Einlauf dass es quietscht und wird obendrein dazu verdonnert, für weniger Geld zu arbeiten. Kein guter Abend!
Von wegen Kolja. Mit dem hatte ich noch zwei weitere zusammenhängende, gleichfalls erwähnenswerte Erlebnisse: Wir waren auf einem Konzert gewesen und standen an der Garderobe an um unsere Jacken abzuholen (in Russland herrscht sogar auf Punkkonzerten Jackenabgabepflicht). Dabei unterhielten wir uns in einem Gemisch aus Russisch und Deutsch (Kolja hat jahrelang in Berlin gelebt). Plötzlich pöbelt uns eine aggressive Rotznase an, wir seien in Russland und sollten gefälligst Russisch sprechen. Es folgte noch weiteres im Stil von „Russland den Russen“. Darauf bedeutete ich ihm in reinstem Russisch, wohin er sich scheren könne (das Russische ist da ja sehr ausdruckskräftig) und bot an, die Angelegenheit andernfalls draußen zu regeln. Beim Verlassen des Lokals gewahrte ich den Verteidiger des Vaterlandes vor der Tür wartend, mit einem Kumpel als Verstärkung. Dumme Situation. Da gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder zurück und verstecken oder: „Ein rotes Banner vor uns her…“, möglichst entschieden und schnell, um Fakten zu schaffen. Für mich selbst überraschend entschied ich mich für die Bannerversion (wenn auch ohne Banner, ich würde, wenn überhaupt, nur hinter einem schwarzen herstürmen), rannte auf die beiden zu und boxte sie um. Naja, mir fehlt dann doch der nötige Killerinstinkt, und anstatt die Sache mit ein paar gezielten Tritten ins Gesicht zu beenden, ließ ich mich in ein ebenso unnötiges wie lustloses Handgemenge ein, in dessen Verlauf auch noch einer der beiden seinen Mitstreiter mit mir verwechselte da Kolja mich beschwichtigend von dem am Boden liegenden abdrängte, und trat somit dem eigenen Waffenbruder wiederholt mit voller Wucht in den Magen bevor er seinen Irrtum bemerkte und mit den Worten „Au Scheiße! Das bist ja du!“ sein absurdes Treiben beendete. Nach dieser albernen Begebenheit fehlte mir dann völlig der Ingrimm um da ernsthaft dreinschlagen zu können, zumal der zweite Mann auf der Gegenseite eigentlich ganz in Ordnung war und, wie sich bald zeigte, nur als Freundschaftsdienst ohne ideologischen Antrieb mittat. Bald schon beschäftigte ich mich nurmehr mit dem national gesonnenen der beiden alleine, Schläge und aufklärendes Gespräch abwechselnd, derweil Kolja mit dem anderen biertrinkend daneben stand – der echt russische Verlauf einer Handgreiflichkeit. Zu guter letzt meinte sogar Koljas Trinkgenosse, wir sollten seinem Kumpel ordentlich auf die Fresse hauen, damit er aufhöre, solch einen Unfug zu erzählen. Dieser fragte mich irgendwann mit blutiger Nase und geschwollener Lippe warum ich ihn denn so grob anfassen würde. Als ich darauf verwies, dass Nationalisten und Rassisten nichts anderes verdienten, rief er empört aus: „Ich bin Tatare, ich kann kein Rassist sein!“ Wir anderen drei brachen in verständnisloses Gelächter aus und ließen ihn stehen. Und noch heute grüble ich zuweilen, was er mir damit sagen wollte. Die mir bekannten Tataren konnten auf Nachfrage keine Aufklärung des kryptischen Ausspruchs liefern. Immerhin entschuldigte er sich zum Abschied.
Die Sache hatte aber noch ein Nachspiel: Einmal hatten sie mich doch erwischt, was mir ein veritables Veilchen bescherte. Und drei Tage später hatte ich einen Kundentermin. Dort erzählte ich dann, auf die Verunstaltung angesprochen, etwas von Eishockey und ohne Gesichtsschutz gespielt. Am folgenden Sonntag in der Banya fragte mich Kolja, ob ich eine O.V. kennen würde. Ja, warum? Er war am Freitag bei Kollegen zum Abendessen eingeladen gewesen und hatte zu Unterhaltungszwecken jene Begebenheit aus der Vorwoche zum Besten gegeben. Plötzlich fragte eine der anwesenden: „Kai…? Kai Siewert?“ Kolja bejahte. „Wir sind Kunden bei dem, der war am Dienstag zur Präsentation bei uns, hat hinsichtlich des blauen Auges aber etwas von Eishockey erzählt.“ Tja, mit solchen Freunden braucht man keine Feinde!
Apropos Gewalttätigkeiten auf der Straße. Wenn ich schon einmal bei Bekenntnissen dieser Art bin: Es gibt da noch eine Geschichte von vor drei Jahren. Ich habe lange überlegt, ob ich sie erzählen soll, aber einerseits ist auch sie Teil meines Lebens in Moskau, und andererseits ist sie wahrer Punkrock und verdient deshalb schon Erwähnung.
Jeden dritten Oktober lädt die Deutsche Botschaft in Moskau alle in der Stadt weilenden Deutschen mit Anhang zu einem kostenlosen Umtrunk mit Häppchen. Der Abend wird reihum von jeweils einem anderen Bundesland ausgerichtet. In jenem Jahr waren es die Schwaben, die zwar reichlich Wein spendierten (war ja klar, produzieren sie selber, kost nichts), beim Essen aber extrem knauserten. Da alle Anwesenden in Erwartung der Gratisverköstigung nichts gegessen hatten, waren die Folgen der Getränkegabe verheerend: in kürzester Zeit waren die meisten Besucher sturzbetrunken; ich habe vor- und nachher auf diesen Veranstaltungen nie wieder eine derartige kollektive Würdelosigkeit beobachtet.
Wie auch immer, ich verbrachte den Abend im Botschaftshof in der sehr angenehmen Gesellschaft zweier Damen von Siemens und der Delegation der Deutschen Wirtschaft, eines leitenden Managers von Daimler Benz Moskau, einiger Austauschstudenten und mehrerer Flaschen Rotwein. Zu fortgeschrittener Stunde begannen einige deutsche Studenten, wie aus unserem Kreise jemand erklärte, Kinder führender deutscher Expats, in einer Ecke des Hofes unter Gejohle mit Biergläsern um sich zu werfen. Generell bin ich ja durchaus ein Freund des anarchisch-regelverletzenden Zeitvertreibs, doch war es mir in diesem Falle peinlich ansehen zu müssen, wie unserer Nachwuchs sich in ausgelassener Herrenmenschenpose vergnügte indem er den zwischen ihnen auf dem Boden kriechenden russischen Kellnerinnen immer neue Gläser zum aufklauben buchstäblich vor der Nase zerschmiss. Ich schlug also den Helden der unkonventionellen Unterhaltung vor, ihr Amüsement außerhalb des Botschaftsgeländes in Beisein und unter Mitwirkung der dort Wache schiebenden russischen Polizei fortzuführen und zu zeigen, was für Männer sie tatsächlich seien. Der Vorschlag wurde ungnädig aufgenommen, es entspann sich ein kurzer Wortwechsel in dessen Verlauf der Größte aus der Gruppe auf mich zustiefelte mit den Worten „Was willst du eigentlich? Komm doch her!“, worauf ich ihm entgegenging, was eine kurze Schubserei zur Folge hatte. Plötzlich machte er eine Bewegung die ich als Vorbereitung zum Schlag deutete. Mir schoss es durch den Kopf: „Schneller sein!!!“ und ich verpasste ihm eine Kopfnuss auf die Nase (hätte ich mich nüchtern nie getraut – man könnte sich ja den Kopf stoßen). Volltreffer, Schmerzensschrei, Nasenbluten, Krümmen, „Meine Nase! Meine Nase!“ Empörung bei seiner Bezugsgruppe, die ich mit einem etwas riskant-großspurigem „will wer noch was?“ abkühlte. Demütigung und verletzter Gruppenstolz ließen jedoch keine Ruhe, ein emotionaler Gärungungsprozess begann und bald kam es wieder zu Tumulten („Du hast auf deutschem Boden deutsches Recht gebrochen. Wir bringen dich in Deutschland vor Gericht!“, „Solche wie dich sollte man erschießen!“), die aber Dank der Besonnenheit der Kollegin von der Delegation der Deutschen Wirtschaft und eines Mädchens von der anderen Seite nicht in weitere Handgreiflichkeiten ausarteten. Wir verließen die Botschaft und setzten den Abend bei dem Menschen von Mercedes fort. Dieser, ein Herr in den Fünfzigern, beruhigte meine gewissensbissbedingten Selbstzweifel ob etwas mehr Zurückhaltung nicht angebracht gewesen wäre, mit folgenden Worten: „Junger Mann, machen sie sich keine Gedanken. Sie haben in dieser Situation ad-ä-quat reagiert!“ Am dritten Oktober in der deutschen Botschaft eine Schlägerei anzuzetteln, die obendrein solchermaßen Absolution erfährt – wenn das nicht Punkrock ist!
Anderes Thema. Das Stilempfinden der hiesigen Weiblichkeit. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, begeistert „die Russin“ mich immer wieder mit ihrem Stolz auf ihr Geschlecht und dem unbedingten Willen, sich optisch ansprechend zu gestalten. Die dabei verwendeten Mittel sind jedoch zu weilen, ja…. hm, eigenwillig. Unsere stellvertretende Generaldirektorin, eigentlich recht attraktiv, vom selbstgerecht-verhärmten Zug um den Mund einmal abgesehen, kam kürzlich in silbernen Cowboystiefeln zum Businesskostüm mit Minirock ins Büro – ich hätte erblinden mögen.
Wiederum Themenwechsel: Eine meiner Bekannten wurde von einem Verkehrspolizisten angehalten: Sie habe eine rote Ampel missachtet. Das war natürlich Unfug, die gute Frau fährt fast überkorrekt aber russische Verkehrspolizisten sind unersättlich (eine Redensart besagt, sie stellen sich immer folgendermaßen vor: „Sergeant Petrov, Frau, drei Kinder“, damit man weiß, was von einem erwartet wird). Es hieß entweder 100,-$ Strafe oder Führerscheinentzug. Die Fahrerin: „Ich hab nur zehn Dollar oder 1000 Rubel (45 Dollar) dabei. Mehr ist nicht drin.“ Darauf die dreiste Antwort: „Du hast da eine Geldkarte. Wir fahren jetzt zum Geldautomaten, da kannst du dann genügend abheben“. Da ist ihr dann doch der Kragen geplatzt und sie pöbelten den nassforschen staatliche Straßenräuber unerschrocken an: „Okay, hier nimm den Führerschein, ich lass es auf ein Verfahren ankommen. Gleichzeitig zeig ich dich aber wegen Korruption an. Und dann werden wir ja sehen, was für eine Wohnung du hast, was für eine Datscha, wie viele Autos – und ob man sich das von deinem offiziellen Gehalt leisten kann.“ Darauf nahm der Knabe wortlos die noch in ihrer Hand befindlichen zehn Dollar, machte auf dem Absatz kehrt und trollte sich beleidigt.
Letztens wurde einer fünfundzwanzigjährigen Arbeitslosen in Moskau ihr 330 000-Euro-teurer Bentley vom Hof geklaut (jegliche Mutmaßungen, welchen Job ihr ständiger männlicher Begleiter hat und welches ihre Hauptaufgabe in der Beziehung ist, seien hier ausgespart). Daraufhin lästerte eine Zeitung: „Armes Ding: arbeitslos – und nun ist auch noch das Auto weg.“
Ein russischer Haushaltselektronikhersteller versucht mit allen Mitteln als deutsche Firma durchzugehen um sich den guten Ruf deutscher Produkte zunutze zu machen. Die Firma heißt „Bork Germany“ und gibt sich wirklich alle Mühe. Leider stellt ihr der Geiz zuweilen ein Bein. So hatten sie eine Weile ein angebliches deutsches Gütesiegel auf allen ihren Plakaten. Nur hatten sie da am Übersetzer gespart und es wurde dort eins zu eins aus dem Russischen übertragen verkündet: „Die hohe Qualität!“ Peinlich.
Der Eingang des russischen Parlaments ist mit einem Zaun von der gemeinen Bevölkerung abgeschirmt, nur ein Tor mit Metalldetektor und vierschrötigen, finster blickenden Wachmannschaften bietet Durchlass. Nun hatte anscheinend wer von den Verantwortlichen irgendwo gelesen, dieser Zaum müsse mit den goldenen Initialen der so verbarrikadierten Körperschaft verziert werden: GD für Gossudarstvennaja Duma (Staatsduma). Mann hatte also diese zwei Buchstaben, aussehend wie eine mittelmäßige Laubsägearbeit und mit Goldfarbe bemalt, in ausreichender Anzahl aufgetrieben. Am Zaun selber konnte man sie anschweißen, am Plastikportal des Durchgangs jedoch nicht. Genau da sollten nun aber die größten Exemplare von der Würde der Institution künden. Also klebte man sie kurzentschlossen mit schwarzem Gaffa-Tape fest, bis sich nach Wochen eine andere Lösung fand. Sah zwar richtig unprofessionell aus, aber formal war der Auftrag erledigt: die „Verzierung“ prangte deutlich sichtbar über dem Einlass.
Winters hatte wir in Moskau Rekord-Minus-Temperaturen von teilweise 35° unter Null. Ein neues geflügeltes Wort machte die Runde. Mit Anspielung auf 1941 hieß es allenthalben: „Schade, dass keine Feind vor Moskau stehen! So ein schöner Frost vergeht völlig ungenutzt.“ Während der gleichen Zeit hatte ich eine beeindruckende Begegnung mit den Naturgewalten. Ich kaufte abends auf dem Heimweg von der Arbeit eine 2-Liter-Flasche Mineralwasser, die mir zimmertemperiert aus dem Kiosk gereicht wurde. Während der nächsten anderthalb Minuten Fußweg gefror sie mir in meiner Hand beim Zusehen. Als ob ein „Freezerman“ aus einem Marvel-Comic seine übernatürlichen Fähigkeiten an ihr demonstriert hätte. Am nächsten Tag wiederholte ein Kollege nach meiner Erzählung das Experiment – das gleiche Resultat, wenn auch erst nach zweieinhalb Minuten. Nach so einem Erlebnis wird einem klar, was Kälte ist, und jegliche „sibirische-Kälte“-Schreie in den deutschen Medien bei Temperaturen unter Minus 10° reduzieren sich auf ihren Kern: wehleidig-großsprecherisches Gejammer der Ahnungslosen.
Teil meiner Aufgaben als Abteilungsleiter war auch, in der Höheren Schule für Ökonomie, Moskaus Elite-Wirtschaftsuni, deren Marketresearch-Lehrstuhlinhaber unser Generaldirektor ist, einmal pro Semester eine Vorlesung zu halten. Programmverantwortlicher ist der Leiter unseres Rechen- und Analysezentrums, ein begnadeter Mathematiker. Eben dieser bat mich nach einer meiner Veranstaltungen aus dem Auditorium zu sich auf den Flur, stellte mir eine attraktiven jungen Dame vor, mit den Worten: „Dies ist …, eine meiner besten Diplomandinnen. Sie möchte sich mit Dir unterhalten. Hast Du etwas Zeit?“ Ich bejahte und er verabschiedete sich mit dem Hinweis auf eine anstehende Veranstaltung. Wir setzten uns auf eine Fensterbank und nach einigen allgemeinen Floskeln begann sie ein Gespräch über die komplexeren Probleme der mathematischen Effektivitätsprognose für Werbespots. Da aber Mathe neben Computern, Aktienkursen und den neuesten Modekreationen das Thema ist, zu dem mir nun wirklich gar nichts einfällt, außer dass es mich auch nicht im geringsten interessiert, war ich eindeutig nicht der richtige Gesprächspartner. Dass meine Gegenüber mich die ganze Zeit aufs allererfreulichste anstrahlte machte die Sache nur bedingt besser. Nach einigen Minuten gestand ich offen meine Inkompetenz ein, gab ihr meine Karte mit der Bitte um eine E-Mail damit ich sie mit auf diesem Gebiet qualifizierteren Kollegen in Kontakt bringen könne und verabschiedete mich höflich. Stutzig machte mich in diesem Augenblick nur ihr schlagartig betrübter Gesichtsausdruck, allerdings ohne dass ich der Sache Bedeutung beimaß.
Am nächsten Morgen suchte ich gleich unseren Programmkoordinator auf, was er sich denn dabei gedacht habe, jemanden mit mathematischen Fragestellungen an mich zu verweisen, zumal er selber da wohl die angemessenere Anlaufstelle sein. Darauf ein dreckiges Grinsen: „Wieso mathematisch? Die hat mich nach Deiner Vorlesung bestürmt, ob und wie sie dich kennenlernen könne. Naja, da hab ich sie dir halt vorgestellt. Vom Mathe war nicht die Rede. Offensichtlich wollte sie dich angraben und du Trottel hast es nicht gemerkt. Hähä!“ Damit war dann auch das traurige Gesicht bei der Verabschiedung erklärt. Es ist ja schmeichelhaft, bei der Jugend noch landen zu können, dass denen aber auch nichts besseres einfällt, als die Verführung mit einem Disput über Mathematik einzuleiten…. Kaum nötig zu erwähnen, dass sie sich nicht mehr gemeldet hat; ich hatte bei der Verabschiedung wohl auch die Gemahlin erwähnt, die zu Hause auf mich wartete…
Zum Abschluss dieses Berichts (die Länge reicht jetzt) noch einmal zurück zum Klischee, d.h. dem Vodka, bzw. Selbstgebrannten. Auf den Dörfern in Russland wird so ziemlich alles was gärt zu Schnaps verarbeitet. Getreide, Kartoffeln, Früchte, wobei sie allerdings keine vernünftigen Obstbrände hinbekommen. Wenn ich so etwas aus Deutschland mitbringe, gibt es immer ein großes „Halloo!“. In der Hand der Russen wird alles zu „Samogon“ (etwa: „Selbstgebrannter“), eine milchige Flüssigkeit mit 50%-70% Alkohol, die einen schwer definierbaren, leichten, durchaus angenehmen Beigeschmack hat und sich, mit Nachhappen, gut trinken lässt. Den Gipfel der Absonderlichkeit bei den Zutaten hat die Großmutter einer Arbeitskollegin erreicht. Die Mitarbeiterin beging ihren Geburtstag in der Firma traditionell damit, dass sie zwei Liter der großmütterlichen Produktion mit Speisebegleitung unters Volk brachte. Beim letzten mal diskutierten wir das Rezept. Und es stellte sich heraus, dass der Grundstoff aus Dörrerbsen mit Zucker und Kefir versetzt bestand. Diese Mischung wurde vergoren, gebrannt und dann eine Zeit lang mit Waldmeister aufgesetzt. Sehr schmackhaft, doch hätte mir mal wer erzählt, ich würde dereinst „Erbsen-Kefir-Schnaps“ trinken…Wenn man allerdings bedenkt, dass eine der populärsten Literaturcharaktere Russlands Geld damit machte, ein Rezept zu verkaufen, wie aus Küchenhockern Hochprozentiges zu gewinnen sei, dann wundert einen gar nichts mehr.