Moskau Report (September 2003)

Moskau Report (September 2003)

Hallo allerseits,
Wie die meisten schon wissen, bin ich nun also seit fast vier Wochen verheiratet. Allerdings hatte ich wegen Hochzeitsreise und nach-dem-Urlaub-wieder-einarbeiten noch keine Zeit, einen entsprechenden Bericht zu verfassen. Deshalb gibt’s jetzt erstmal den vor-Hochzeits-Report, den ich schon ungefähr sechs Wochen auf dem Rechner hatte, aber wegen der Hochzeitsvorbereitungen nicht geschafft habe, abzuschicken. Also, here we go, angefangen mit ein paar unterhaltsamen Details:

Es gibt Asterix auf Russisch! Es kann dies Volk kein schlechtes sein. Die Übersetzung ist auch recht gut geglückt und – soweit ich die in Erinnerung habe – sehr dicht an der deutschen Variante dran, die ja angeblich als die beste überhaupt gilt. Zunächst sind erschienen: “…und die Normannen”; “…und Kleopatra”; “…und die Goten”, mithin drei echte Klassiker, wie alle Kenner bestätigen werden. Ich hab sie gleich Svetlana geschenkt, die darauf von dem in Russland weit verbreiteten Klischee, Comics seien nur was für analphabetische Kinder, bzw. Opfer des amerikanischen Bildungssystems, abrücken musste.

Immer wenn die Leute hier mitbekommen, dass ich nicht nur auf Geschäftsreise in Russland weile, sondern ganz hierher gezogen bin, jedes Mal (aber auch wirklich jedes Mal!!!) folgende Reaktion: “Wieso denn das? Spinnst du? Bei euch ist es doch viel besser! Unsere (so reden Russen über andere Russen) wollen alle zu euch ausreisen und du kommst freiwillig hierher?” Sobald man denen aber erklärt hat, dass der Alltag überall lästig sein kann, dass es mir hier wirklich gefällt und dass Sveta und ich beabsichtigen, in Russland zu leben, ich also nicht einer der vielen Ausländer bin, die sich eine Russin angeln und dann wieder verschwinden, geht eine erstaunliche, richtig rührende Wandlung mit meinen Gegenüber vor: Sie schmelzen geradezu dahin und die mürrischsten Horrorgestalten werden die Liebenswürdigkeit in Person: Der grantige Chirurg in der Polyklinik; die Tante im Standesamt, die mich am Telefon, milde ausgedrückt, patzig abgefertigt hatte (von ihr am Ende der Spruch – deutsche Linke aufgemerkt! – “Deutschland hat seine Kriegsschuld schon lange abgezahlt”, der mich sich winden machte und in den inneren Widerstreit zwischen opportunistischen Nicken – bloß nicht widersprechen und die gute Frau womöglich reizen – und moralischer-antifaschistischer Empörung trieb, wobei schnöder Pragmatismus obsiegte, wenn auch von einem gequälten Gesichtsausdruck als subversiver Protestform begleitet); im Außenministerium, wo ich schon fürchtete, dass wegen eines Formfehlers meine Ledigkeitsbescheinigung nicht anerkannt und legalisiert würde, wurde ich mit besten Wünschen überhäuft, und beim Notar hätte nicht viel gefehlt, dass sie mich zur Tür getragen hätten (was sie aber nicht daran gehindert hat, meinen Namen in der Übersetzung des Passes falsch zu schreiben, weshalb ich die ganze Übersetzung noch einmal machen lassen musste). Sosehr die Menschen am Alltag in Russland leiden und stundenlang über Land und Leben hier schimpfen können, so stolz und herzlich hilfsbereit sind sie, wenn sich westliche Ausländer (die nach landläufiger Vorstellung im Paradies leben) auf Russland, seine Menschen und das Leben hier tatsächlich einlassen.

Das Fußballspiel Schalke – Dortmund wurde hier im Fernsehen als “Dortmund-Derby” angekündigt. Wenn die das auf Schalke wüssten…

Aus der Rubrik „Mittelalter im 21.Jahrhundert“: Letztens war ich zur Taufe der Tochter eines meiner besten Freunde hier eingeladen, was sich als hochinteressante Angelegenheit erwies, da sich das ganze doch recht stark von den Gebräuchen der bei uns vorherrschenden Sekten unterscheidet: Erst einmal dauert die Prozedur viel länger, ein Kind wird über vierzig Minuten vom Popen auf die verschiedenste Art und Weise bearbeitet. Wie meinte der Großvater des Täuflings? “In der orthodoxen Kirche gibt es keine einfachen Prozeduren. Hier ist alles kompliziert und anstrengend.” Und richtig: zunächst wurden die Paten einem strengen Verhör unterzogen, wie es denn um ihre Gottesfürchtigkeit stehe (wurde eher ausweichend beantwortet), dann die Frage, ob sie denn regelmäßig die Kirche besuchten (“hm, ja, kommt schon vor”), bevor sich dem armen Kinde zugewandt wurde. Es begann das Herunterbrabbeln (ein passenderes, neutrales Wort will mir auch nach langem Nachdenken beim besten Willen nicht einfallen) einer nicht enden wollenden Litanei, unter Weihraucheinnebeln, Weihwasserverspritzen, über-die-schulter-spucken usw.(es gemahnte fast an Warzenbersprechen durch alte Zigeunerinnen). Dann wurde das Kind entkleidet, das bis dahin ruhig und interessiert zugeschaut hatte, nun aber anfing, heftigen Widerstand zu leisten und somit gesunden Menschenverstand bewies.

Hier ist ein kleiner Einschub nötig: russische Popen sind meist ungepflegt wirkende Männer mit Eifererblick, Rauschebart und langen, gefetteten Haaren, kurz reichlich schmierige Patrone, denen man, träten sie an der Kottbusser Brücke auf, definitiv keinen Gebrauchtwagen abkaufen würde.
Dass die gute Alisa (so der Name der zu taufenden) anfing, renitent zu werden als ein solches Subjekt sich ihr näherte, um ihr an die Wäsche zu gehen, zeigt, dass sie schon im Alter von neun Monaten weiß, wo die Gefahr lauert und wann es an der Zeit ist, Widerborstigkeit zu demonstrieren. Das nun nackte Kind wurde zur Gänze (!) ins Taufbecken gehoben und unter Formelgemurmel eingetaucht. Es folgte die Segnung eines Goldkreuzes an einer ebensolchen Kette, die dem Kind dann umgehängt wurde, bevor die Veranstaltung in einer weiteren Litanei ihr Ende fand.

Die ganze Zeit über wurde dem Popen von einer im Blaumann gewandeten Oma assistiert, die an den entsprechenden Stellen der Litanei ein inbrünstiges “gelobet sei der Herr” oder “ der Herr erbarme sich unser” intonierte (von der Taufgemeinde hatte keiner so recht den Durchblick, was wann auszurufen war – der Vater des Kindes hat jüdisch-ukrainische Wurzeln, aber in Russland ist es momentan national-kulturell en vogue orthodox zu tragen), neugierige Zuschauer vertrieb, Kerzenständer säuberte, das Taufwasser temperierte, Weihrauch nachfüllte und den Fußboden schrubbte. Und das alles gleichzeitig während der Zeremonie und zwischen deren Teilnehmern sich durchdrängelnd!!! Quasi eine spirituell-hausmeisterliche Allzweckwaffe.

Neulich war hier “Tag der Fallschirmjäger”. Fast jeder Beruf hat in Russland seinen Professionsfeiertag, an dem die Mitglieder der gerade abgefeierten Werktätigengruppe rattenstramm durch die Straßen ziehen und dabei mehr oder minder entgleisen. Die Eisenbahner sind zwar immer schön voll, fallen aber nicht weiter unangenehm auf. Die Fallschirmjäger, die Elitetruppe der russischen Armee, verbreiten hingegen immer Angst und Schrecken, da sie sich erst komplett volllaufen lassen und dann mit allem und jeden handgreiflichsten Streit suchen (vor zwei Jahren gab es sogar Tote). Deshalb ist der Tag dieses Jahr offiziell ausgefallen, wurde aber trotzdem begangen: Die Innenstadt war voll mit ebenso vollen Männern, die angetan mit den blauen Mützen und traditionellen gestreiften Unterhemden der Truppe schwankenden Schrittes mit stieren Blicken aus glasigen Augen Betätigung suchten oder alle Springbrunnen der Stadt zu Abkühlung und Waschung bevölkerten, und mit Bereitschaftspolizei, allerdings nicht den armen Wehrdienstleistenden Würstchen von den Innenministeriumstruppen, die sogar der letzte Asselpunk im Vollrausch verprügeln könnte, sondern ausschließlich OMON, die Sondereinheiten der Polizei, die alle schon ihre Zeit in Tschetschenien hinter sich haben. Fiese Gesellen mit reichlich Muskeln und geringer Hemmschwelle.

Alle Geschäfte im Stadtzentrum hatten ihre Alkoholika-Abteilung geschlossen, trotzdem wurden mehrere Autos mit kaukasisch aussehenden Fahrern angehalten und aufs Dach gedreht, die Fahrer selbst verhauen (gab wohl keine ernsthaft Verletzten). Auch ein “wichtiger” Geschäftsmann musste sich von seinem Mercedes verabschieden, da er nicht einsehen wollte, dass betrunkene Fallschirmjäger in Gruppen über 10 grundsätzlich grün haben. Kurz, eine ausgelassene Festivität folkloristischer Natur.

Nun aber zur Hauptsache: unsere Hochzeitsvorbereitungen. Zum heiraten muss bekanntlich ein Aufgebot bestellt werden. In Russland geht das frühestens sechs Wochen vor der Hochzeit. Um aber den ganzen aus Deutschland Anreisenden die Möglichkeit zu geben, vernünftige Reisen zu buchen und tatsächlich ein Visum zu erhalten, brauchten Sveta und ich schon einen verbindlichen Termin acht (!) Wochen vor dem geplanten Hochzeitstag – ein Ansinnen außerhalb der Standardroute bürokratisch geheiligter Bürgerpassion: potentiell ein verwaltungstechnisches Minenfeld!

 

Ich also ins Standesamt und mir alles genau erklären lassen, welche Dokumente nötig seien usw. Als die fertig waren, noch einmal hin, diese überprüfen lassen (waren Fehler drin, das Ganze noch mal neu), dann ein weiteres Mal zur nochmaligen Überprüfung und um die Frage einer möglichen vorzeitigen Aufgebotsbestellung zu klären. Auf Anraten unserer Firmensekretärin hatte ich eine Schachtel Pralinen dabei (“macht sich immer gut, die fühlen sich geschmeichelt, sind hilfsbereiter und – ganz wichtig! – werden sich später auch noch an dich erinnern“), die ich mit ein paar passenden Worten der guten Beamtin überreichte (so im Stil von “danke, dass sie so geduldig meine Fragen beantworten und mir helfen etc.”). Mir wurde geraten, meine Angelegenheit in Svetas Beisein der Leiterin des Standesamtes vorzutragen, vielleicht könne die ja helfen, was von mir und allen meinen russischen Freunden als recht deutlicher Hinweis auf ein fälliges Bestechungsgeld gedeutet wurde.

 

Als Svetik und ich dann am entsprechenden Tag um 10.00 morgens am Standesamt einritten, standen schon 96 (!) heiratswillige Pare vor uns in der Schlange, um sich registrieren zu lassen. Diesen Sommer erleben die Standesämter in Russland einen Rekordansturm. Eine Standesamtsleiterin in Omsk meinte in einer Fernsehübertragung zu dem Thema nur: “die sind alle krank dieses Jahr!” Nach einigem hin und her konnten wir aber den Wachmann an der Tür überzeugen, dass wir nicht in diese Schlange müssten, da direkt zur Amtsleiterin. Vor deren Tür war dann aber auch noch eine ordentliche Menschentraube, doch als wir nach zwei Stunden warten bei ihr vorgelassen wurden, stellte sich heraus, dass diese im Urlaub und als ihre Vertreterin jene Dame tätig war, der ich die Pralinen überreicht hatte. Diese konnte sich dementsprechend an mich erinnern, war sehr zuvorkommend, verbesserte handschriftlich unsere (natürlich) falsch ausgefüllten Aufgebotsanträge (sonst lassen russische Beamte wegen eines unleserlichen Buchstaben ein ganzes Formular neu vollschreiben) und diktierte uns sogar den Text für unseren Antrag auf Genehmigung einer vorzeitigen Aufgebotsbestellung. In allem wurden unseren Wünschen entsprochen, nur die Hochzeitsurzeit war mit 11.00 etwas früher als erhofft (ich bin vormittags bekanntlich nur dekorativ zu gebrauchen), die Kröte mussten wir aber schlucken, um keine Überprüfung der Vorganges durch höhere Stellen zu provozieren, was die Sache dann wirklich kompliziert gemacht hätte. Kein Wort von Backschisch, auch nicht der leiseste Hinweis. Aus Dankbarkeit haben wir ihr dann eine Flasche Metaxa gekauft und ins Büro gebracht, worüber sie sich mächtig gefreut hat. Zwei Tage später rief sie mich auf Arbeit an, sie habe vergessen, meine Registrationsnummer aufzuschreiben, ob ich sie ihr schnell telefonisch durchgeben könne. Ein russischer Beamter, der von sich aus anruft und dann auch noch eine Information telefonisch entgegennimmt – eher eröffnen sie im Iran eine Eisbeinkneipe. Ich wurde also Zeuge eines wahren Wunders. Wozu eine kleine Aufmerksamkeit gut sein kann…

Noch einige Worte zu einem bitteren Thema: der Bombenanschlag auf das Rockkonzert in Tushino. In den deutschen Medien wurde dazu mal wieder reichlich gelogen, die russische Regierung und die von ihr kontrollierten Medien hätten die Nachrichten darüber unterdrückt u.ä. Ich war an dem Tag in einem Park der Stadt in-line-skaten und wusste schon zwei Stunden nach der Tat über Mobiltelefon und Radio genauer über das Geschehen Bescheid, als was mir deutsche Medien noch zwei Tage später zu dem Thema erzählen wollten (alle möglichen, später sich als haltlos erweisende Theorien, überhöhte Opferzahlen usw.). Auch wurde, entgegen der Behauptungen deutscher Medien umfassend über das Geschehen berichtet. Es findet in Deutschland eine dreiste pro-tschetschenische oder zumindest anti-russische Propaganda statt.

Und noch mal “something completely different“ (Monty Python) um mit etwas Erfreulichen zu schließen: Neulich wurde ich Zeuge, wie hier in Moskau innerhalb einer Nacht die halbe Tverskaya (ungefähr der Ku’damm Moskaus), ca 1,5 km, neu asphaltiert wurde. Ein ähnliches Ereignis in Berlin lässt sich nur schwer vorstellen, am Belag der Uhlandstraße, z.B., wird gearbeitet, seit bei mir die Erinnerung einsetzte. So oft ich auch über die Russen und ihren Hang zu Chaos und Umständlichkeit lästere, in manchen Situationen leisten sie einfach Erstaunliches.
Freundschaft.

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