Moskau Report (Herbst 2007)

Moskaureport (Herbst 2007)

Nachdem sich das Schreiben der Berichte über meine Transsib-Abenteuer und die Kazakhstan-Reise reichlich hingezogen hat, nun die Erlebnisse der letzen anderthalb Jahre, wobei ich das alles in zwei Sammelberichte fassen werde. Dass dieser Umfang ausreicht, hat u.a. damit zu tun, dass mir viele Dinge einfach nicht mehr auffallen. Ich sehe sie schon als normal an weil, wie hier zunehmend von meinen russischen Freunden und Bekannten gelästert wird, meine „Russifizierung erfolgreich voranschreitet“ (als besonderer Assimilierungs“erfolg“ wurde mein blaues Auge nach einer Straßenschlägerei abgefeiert, doch dazu später mehr).

Ein schönes Beispiel für diese Gewöhnung an russische Verhältnisse war etwas, auf das mich erst eine englische Zeitung aufmerksam machte:

Die liberalen russischen Oppositionsparteien hatten sich vor etwa einem Jahr zurecht beschwert, in den Medien sytematisch totgeschwiegen zu werden. Auch aus dem Ausland gab es kritische Stimmen. Als Reaktion darauf beschäftigten sich die staatlichen Medien nun ausgiebig mit diesen Parteien und brandmarkten sie einen Monat lang fast täglich in „Enthüllungsstorys“ als korrupt, staatsfeindlich, vom Ausland gekauft und am Untergang Russlands arbeitend; politische Inhalte spielten selbstverständlich keine Rolle. Selber zu Wort kamen die demaskierten „Schurken“ natürlich auch nicht. Gleichzeitig stellte sich ein hoher Beamter mit scheinheiliger Miene vor die Kameras und verkündete stolz, man habe auf die Kritik reagiert, die Opposition habe um ein Mehrfaches erhöhte Fernsehzeit bekommen, das sei doch ein deutliches Zeichen des tiefdemokratischen Charakters des russischen Staates. Klassisch russischer Zynismus: basierend auf einer rein quantitativen Pseudoobjektivität (nach Sendeminuten hatte die Opposition in der Tat größere Beachtung erfahren) dreist lügen und gleichzeitig die Situation de facto noch verschlimmern. Ich selbst hatte das zwar wahrgenommen, aber als nicht sonderlich erwähnenswert betrachtet, es war einfach nur die Form staatlicher plumper Unverschämtheit, die hier schon keinen mehr erstaunt. Die Gewöhnung an derartige Zustände und daraus resultierend die fehlende Sensibiltät gegenüber solchen Begebenheiten sind ein weiterer Grund, warum sich über die letzten 18-20 Monate nicht so viel angesammelt hat, dass es mich geradezu an den Computer getrieben hätte.

Daazu kommt, dass das einschneidendste Erlebnis der vergangenen anderthalb Jahre es mir nach wie vor nicht leicht macht, darüber zu schreiben. Auch deshalb habe ich mich auch lange vor einem weiteren Moskaureprt im üblichen Format gedrückt: Im April letzten Jahres sind Svetlanas Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Svetlana sagte dazu passend „wie in einem klischeehaften Amifilm, den keiner glaubt“. Der Honda der Eltern stiess frontal mit einem Geländewagen zusammen, die Eltern waren sofort tot, die „Gegenpartei“ hatten keinen Kratzer, auch wenn deren Wagen gleichfalls hin war. Was genau passiert ist, wird wohl unklar bleiben, da bei Unfällen mit Toten – so diese nicht berühmt waren – die Verkehrspolizei hier meist keine Untersuchung anstellt, sondern aus Prinzip alles auf die Toten schiebt. Vereinfacht die Angelegenheit kolossal, da die sich nicht wehren können. Als Folge hätten wir als Erben der offiziell Schuldigen von den Anderen sogar noch auf Schadensersatz verklagt werden können, doch stellte sich heraus, dass deren Wagen nicht ganz koscher war (d.h. da waren geklaute Ersatzteile drin verbaut), weshalb sie die Angelegenheit auf sich beruhen ließen.

Zur Sache selber möchte ich mich nicht auslassen weil mir schlicht die rechten Worte fehlen. Es sei nur so viel gesagt, dass Svetik sich in dieser Situation geradezu heldenhaft gehalten hat. Daneben haben mich aber im Umfeld der Trauerfeierlichkeiten einige Momente beeindruckt, die hier kurz beschrieben werden sollten.

Nachdem wir die schlimme Nachricht erhalten hatten, haben wir sofort Flüge nach Krasnoyarsk gebucht. Wie sich herausstellte, hatten die Fabrik des Vaters (er war einer aus der Elite der dortigen Atomphysiker) und die Freunde der Eltern die Organisation der gesamten Trauerfeierlichkeiten schon abgeschlossen. Es blieb Svetik, ihrem Bruder und ihrem Onkel nur noch, die endgültige Varianten aus den möglichen auszuwählen. Wenn man bedenkt, dass bei der Verabschiedung der Toten über 200 Menschen erschienen, dass auf dem Friedhof ungefähr ebensoviele anwesend waren, und dass am Leichenschmaus an die 100 teilnahmen, wird einem klar, was für die Hinterbliebenen geleistet wurde. Nicht auszudenken, dass diese all das selbst hätten auf die Beine hätten stellen müssen. Es war auch so schon mit Behördengängen, Dokumentensichtung, Unterbringung angereister Verwandter reichlich zu tun. Was eigentlich ein Glück war, da so keine Zeit zum Grübeln blieb. Jedenfalls haben mich Hilfsbereitschaft, Takt und Mitgefühl besonders der Freunde, aber auch des Arbeitgebers, schwer beeindruckt. Selbst im weiteren Verlauf der Erbschaftsregelung wurden wir von der hilfreichen, tatkräftigen Anteilnahme der Freunde in unvorstellbarerweise untestützt und ermutigt. In dieser Situation erlebte ich selbst das, was als Mythos von der russischen Seele durch viele Erzählungen und Klischees geistert und das – wenn einmal erlebt – einen für immer für dieses Volk einnimmt, so schwer sie es einem im Alltag auch manchmal machen, sie zu mögen: die absolute, bedingungslose und herzliche Hilfsbereitschaft gegenüber Freunden in Not.

Dafür hat dann der dortige Pope wieder eine weitere, nachträgliche Begründung für meinen Kirchenaustritt geliefert (okay, ich war bei den Evangelen, laber etzlich unterscheiden sich diese Gedankenknechtungsverbände im Zeichen eines Folterinstrumentes nicht wirklich: Es geht darum, die Menschen mit Schuldgefühlen zu belasten und sie so zu gefügigen Werkzeugen einer bestimmten Clique zu machen, die meint, das Recht dazu aus ihrer besonderen Beziehung zu einem Gott ableiten zu können, das geistige Vermächtnis dessen angeblichen Sohnes, auf das sie sich berufen, sie täglich ad absurdum führen, verhöhnen und für ihre Zwecke missbrauchen). Svetlanas Tante aus Omsk hatte sich nach ihrer Ankunft zur örtlichen Kirche begeben, sie wollte, einer russischen Tradition folgend, für beide Verstorbene Ikonen erstehen, die ihnen in den Sarg mitgegeben werden sollten. Als der lokale Sektenvertreter spitzkriegte, in welcher Situation sie war, schwatzte er ihr gleich einen ganzen Haufen zusätzlichen Glaubensklimbims auf (Ikonen Kreuze, Papierstreifen mit Gebeten, Gebetssammlung usw usf.), der angeblich unabdingbar sei, um die Seelen der Dahingegangenen sicher ins Jenseits zu geleiten, und der natürlich in höchst diesseitiger, klingender Münze bezahlt werden musste – ein grandioser Merchandisingoverkill, vollzogen in einem „Gotteshaus“; dabei hatte nicht Christus selbst die Händler aus dem Tempel verjagt? Dazu gab es noch streng vorgetragene Instruktionen, wie all dieser Religionsnippes regelgerecht zu applizieren sei. Hätten wir uns daran gehalten, die Eltern hätten lamettabehängten Christbäumen geglichen und die ernste Würde der zur Verabschiedung im offenen Sarg aufgebahrten wäre unter einem Haufen abergläubigen Schnickschnacks begraben worden. Und das Svetlanas Vater, einem streitbaren Atheisten! Zum Glück sprach Svetik ein Machtwort und das Devotionalienzeugs kam zu Tantchens Beruhigung (man weiss ja nie, oder wie viele Russen sagen: „Ich glaube nicht an Gott, daher fürchte ich ihn.“) zwar mit auf die Reise, aber dezent versteckt. Ich meinerseits wäre am liebsten zur Kirche gefahren und hätte an diesem geschäftstüchtigen Seelenfänger reichlich Unchristliches vollzogen.

Die Beerdigung war eine eindrucksvolle Veranstaltung. Wie sich herausstellte, waren die Eltern durch Persönlichkeit und Stellung wichtige Personen im Städtchen gewesen (so wichtig, dass ein Mitglied der Firmenleitung mit unklarem Verhältnis zum KGB und dem jetzigen Innlandsgeheimdienst bei seinem Kondolenzbesuch unruhig und ausdauernd in uns drang, ob der Vater zu Hause nicht etwas über seine Arbeit erzählt habe oder irgendwelche Dokumente oder persönliche Aufzeichnungen hinsichtlich seiner Forschungen aufgetaucht seien), die sich großer Beleibtheit erfreuten. Sie hatten sich hervorragend ergänzt: Vattern ein schweigsamer, sarkastischer Kopfmensch, stets wohlüberlegt und mit beißendem Humor, Muttern ein Kommunikationstalent, das, was die Russen die „Seele der Gemeinschaft“ nennen. An einem Moment des Leichenschmauses, als die allgemeine Trauer sich wie eine bleierne Decke über die Gesellschaft zu legen begann, stand ein Jugendfreund des Vaters auf und stellte fest, die bisherige Form der Erinnerung sei zwar verständlich aber nicht angemessen, schließlich hätten sie mit den Verstorbenen zu Lebzeiten viel Spaß gehabt. Und daran solle man sich erinnern, das sei sicher auch eher im Sinne der Toten, die nun wahrlich keine Triefnasen gewesen seien. Er selbst machte den Anfang und erzählte eine gemeinsam erlebte Anekdote. Andere folgten und bald entstand eine wenn auch melancholische, so doch gleichzeitig heitere Atmosphäre. Die Ausnahme gab die schon erwähnte Tante, die sich in einen hysterischen Klageweiberauftritt nach dem anderen steigerte, was Svetik in ihrer unvergleichlichen Art genervt-bissig kommentierte mit: „Wenn sie nicht bald aufhört, erwürge ich sie!“

Etwas später baten dann die Verwandten die besten Freunde zu einem weniger offiziellen Beisammensein im Elternhaus. Es wurde ein fast ausgelassenes Treffen mit Erinnerungen, dem Anschauen alter Videos und dem Erzählen von Stories aus der gemeinsamen Vergangenheit. Am Ende waren alle, ja, man kann es fröhlich nennen (sogar die Tante hatte sich etwas beruhigt und ihre Darstellung dahingehend modifiziert, als graue Regenwolke mehr oder minder still die Couch zu bevölkern und in besonders fröhlichen Momenten vernehmlich in sich hineinzugreinen). Einige der männlichen Teilnehmerschaft mussten sogar zum Taxi getragen werden (beisammensitzen macht immer durstig) und alle stimmten überein, wie angemesen dies alles den Verunglückten gewesen sei. Diese Veranstaltung und das Verhalten der Anwesenden haben mich schwer beeindruckt. Diese Leute hatten alle zwei geliebte oder zumindest von ihnen überaus geachtete Menschen verloren und verabschiedeten sich von ihnen zwar in Trauer und in Würde aber gleichzeitig mit einem Lachen.

Soweit dazu, was zu dem Thema noch folgt, ist dann wieder eher skurriler Natur, angefangen damit, dass drei Tage nach unserer Abreise der neben dem Elternhaus entlangfließende Fluss von auf ihm treibenden Eisschollen blockiert wurde, über die Ufer trat und die gesamte Umgegend unter Wasser setzte (was im Frühjahr in Sibirien ständig passiert und oft durch geziehlte Sprengungen des Eises abgewendet werden kann). Als Verwandte den Bruder morgens zum Friedhofsgang abholen wollten, kamen sie schon nur noch mit dem Schlauchboot zum Haus. Fast sämtlicher im Erdgeschoss befindlicher Besitz bis zu einer Stehhöhe von 30 cm war natürlich hin und Brüderchen samt Verwandten und Freunden für die nächsten zwei Monate mit Renovierungsarbeiten beschäftigt. Letzteres eigentlich nicht das Schlimmste, da der Knabe so sinnvoll beschäftigt war, bevor sich das Haus nach der Renovierung in eine Dauerpartyzone seiner mehr oder minder zweifelhaften Kumpels verwandelte und langsam aber sicher zu verkommen drohte. Da verabredet worden war, die Immobilie zu verkaufen – Svetlana konnte damit nichts anfangen und den Bruder hätten die laufenden Kosten in den Ruin getrieben – und außerdem sichtlich nicht nur das Gemäuer sondern auch der Zustand des Bruders litt, fand diese Entwicklung bei Svetik und den Verwandten im Ort nur sehr begrenzt Anklang. Zunächst konnten wir freilich wenig machen, da der Bruder dort gemeldet war und obendrein der in diesem Falle eigentlich weisen russischen Gesetzgebeung zufolge sämtliche Besitztümer Verstorbener sofort für sechs Monate eingefrohren und mit einer Verfügungssperre belegt werden, so dass a) sich die Erbschaftsverhältnisse angemessen klären lassen und derweil nichts „verschwindet“, b) die Erben Zeit haben, sich zu einigen, c) alle Erben ausfindig gemacht werden können. Daher, d.h. um die Erbschaftsangelegenheiten zu regeln und das Haus zu verkaufen, mussten Svetik und ich im November noch einmal in ihre Heimatstadt. Bis dahin hatte der Bruder, auch mangels anderer Möglichkeiten, dort Wohnrecht, bevor er nach dem Verkauf in eine von den Großeltern geerbte kleine Wohnung in der Stadt, die bis dahin renoviert werden musste, umziehen sollte.

Wir also im November noch einmal nach „Krasnoyarsk 45“, wie das kleine Städtchen heißt (versucht nicht erst, es auf einer Landkarte zu finden, da „verbotene Stadt“, ist es nirgendwo verzeichnet). Die erste Überraschung war, dass der mit den Erbschaftsangelegenheiten betraute Anwalt fast nichts gemacht und dauernd Fristen versäumte hatte, weshalb Svetik die meiste Zeit der kommenden Woche damit beschäftigt war, entweder ihn anzutreiben oder seine Arbeit zu erledigen. Später fertigte er auch noch ein wichtiges Dokument falsch aus, mochte es aber nicht zugeben, verkrachte sich mit dem örtlichen Notar und bescherte uns so noch einen „Besitzfesstellungsprozess“ mit entsprechenden Kosten und Zeitverzögerungen. Letztendlich, kurz vor der angeblich endgültigen Regelung des Vorganges, kündigte er von einen Tag auf den anderen und hinterlies die ganze Angelegenheit seiner Assistentin, einem ebenso atemberaubend schönen wie dummen Wesen, ohne jede Vollmachten weil ja alle Vertretungsrechte auf ihn ausgestellt waren. Die Regelung der Erb- und Besitzverhältnisse, die eigentlich in vier Monaten über die Bühne hätte gehen sollen, zieht sich nun schon fast ein Jahr hin – und das alles mit einem Hauskäufer im Rücken, der das Geld für den Kauf nur über Kredit und Verkauf seiner Wohnung zusammenbekommen hatte und deshalb genötigt war, aus seiner Bleibe aus- und in das Haus einzuziehen, was ihn naturgemäß sehr eingeschränkt geduldig gegenüber jeder Verzögerung machte. Zum Glück haben wir da inzwischen eine Übergangslösung gefunden.

Apropos Hausverkauf. Der entwickelte sich geradezu zu einer Groteske: Bei unserer Ankunft in „45ki“, wie der Ort im Volksmund heißt, waren minus 30 Grad und strahlender Sonnenschein, kurz, für Zentralsibirien prächtiges Herbstwetter, wie uns die Eingeborenen immer wieder versicherten. Wahrscheinlich deshalb hatte man die Passagiere nach der Landung in Krasnoyarsk auf dem Flughafen unter freiem Himmel über anderthalb Stunden auf das Gepäck warten lassen: Die Nachtschicht hatte ihre Zeit fast rum und so kurz vor Schluss überhapt keine Möge mehr, noch irgend etwas zu tun, derweil die Frühschicht Tee trank, sich seelisch auf den Tag vorbereitete und emotional noch nicht in der Lage war, zur Tat zu schreiten. Naja, da ja so ein „prima Herbstwetter“ war, bekamen die Passagiere die Gelegenheit frische Luft zu schnappen bis sie anfingen, renitent zu werden und sich dann doch wer bequemte, seinen Job zu machen.

Am ersten Morgen nach unserer Ankunft sind wir dann mit Svetik, Bruder, Onkel und gutem Freund auf den Friedhof gefahren, die Eltern und Großeltern besuchen. Die Russen haben die schöne Tradition an den Gräbern ihrer Verstorbenen mit diesen zu trinken, wobei das hier in einem weiteren Sinne, eher: gesellig verkehren, gemeint ist. Auf den Grabstein wird ein vodkagefülltes Schnapsglas gestellt, darauf ein Stück Brot, daneben einige Süßigkeiten oder Obst. Die Besucher gießen sich nun selbst ein, prosten sich und dem Verstorbenen zu (wobei nicht angestoßen werden darf), gedenken kurz schweigend des Toten, trinken und essen einen Happen (wie beim Vodkatrinken üblich). Das kann sich mehrmals wiederholen, überschreitet aber niemals die Grenze zum Exzess. Am Ende bleiben das gefüllte Glas und die Gaben an den Dahingeschiedenen auf dem Grabstein zurück (in manchen Regionen wird zuletzt das Glas des Toten auf das Grab ausgeleert).

Nachdem wir dieses Ritual an den Gräbern der Verwandschaft vollzogen hatten, kehrten wir in den Ort zurück. Schon von weitem sahen wir in den klaren, eiskalten Himmel dicke Dampfschwaden aus dem Haus aufsteigen. Als wir die Tür öffneten schlug uns unter lautem Zischen eine Hitze- und Dampfwelle wie ein Faustschlag ins Gesicht entgegen. Svetas Bruder in die Garage gehechtet, wo das heiße Wasser schon knöcheltief stand und sämtliche Nothähne zugedreht. Das gesamte Gebäude war dampfgeschwängert und troff buchstäblich, wie eine Banya. Wir die Fenster aufgerissen, was sich sofort als böser Fehler erwies: bei minus 30 Grad bildete der Wasserdampf augenblicklich eine etwa 1 cm dicke Eisschicht auf den Fensterrahmen, so dass die Fenster nicht mehr zu schließen waren. Andererseits hatten wir keine andere Wahl, der Dampf musste raus, da einerseits die Innenwände aus Rigips sich mit Feuchtigkeit vollsaugten und die Tapeten begannen, Wellen zu werfen, und außerdem abends ein potentieller Käufer das Haus aufsuchen wollte. Wir mussten also in jedem Fall lüften. Im Endeffekt habe ich dann später etwas über eine Stunde damit verbracht, mit einem Föhn die Fensterrahmen zu enteisen, bei den Außentemperaturen eine reichlich undankbare Aufgabe weil der Föhn es kaum schaffte, die eiskalte Luft genügend zu erhitzen.

Was war geschehen? Hier ist nun etwas weiter auszuholen: Wie in einem früheren Bericht erwähnt, hatte die Fabrik der Eltern von einer kanadischen Firma eine ganze Siedlung Einfamilienhäuser errichten lassen, die dann verdienten Mitarbeitern günstig zu Sonderkonditionen überlassen wurden – ein kleines Suburbia mitten in Sibirien. Die Kanadier hatten das gesamte Baumaterial einschließlich der Rohre aus der Heimat mitgebracht und verbaut. Leider hatte ihnen niemand gesagt, dass sich in Russland die Heißwasserversorgung meist aus dem Kühlwasser nahegelegener Kraftwerke speist, was bedeutet, dass die Temperatur des Wassers großen Schwankungen unterliegt: je stärker das Kraftwerk belastet ist, desto höher die Wassertemperatur. Bei minus 30 Grad nun lief die Stromversorgung auf Hochtouren (wegen der miesen Wärmedämmung der meisten Häuser in Russland werden bei solchen Temperaturen Heere von Elektroheizungen angeworfen) und das Warmwasser aus dem Hahn mit 115 Grad. Das war zuviel für die kanadisch-bourgeoisen Plastikrohre und sie schmolzen einfach. Wenigstens die Heizung, bestehend aus russischen Eisenrohren, blieb unbeschädigt und funktionstüchtig.

Die eilig bestellten und am nächsten Tag eintreffenden Klemptner fanden dann heraus, dass das von den Kanadiern verwendete Material nicht kompatibel war mit allen auf dem russischen Markt erhältlichen Rohren, was ein Flicken der Heißwasserversorgung durch stellenweises Verschmelzen mit neuen Leitungsteilen unmöglich machte. Außerdem hatten einige der Kaltwasserrohre durch den Wasserdampf auch etwas abbekommen. Uns war es also vergönnt, neben der Erledigung einer Unmenge Papierkrams, dem Umzug von Svetas Bruder, der Sichtung, Aufteilung, Abgabe und Verpackung der Elterlichen Sachen, und der Verschickung des Schlafzimmers und einer Vielzahl Kartons zu uns nach Moskau auch noch sämtliche Wasserrohre des Hauses zu erneuern. So richtig gemein, mit Einbauküche aus- und wieder einbauen, Kacheln abschlagen, Wände und Decken aufstämmen und eine Woche ohne Wasser leben. Waschen war somit nur alle zwei Tage bei Verwandten, die Wäsche morgens fand mittels Abreiben mit Schnee statt. Gleichzeitig verwandelte sich das Haus in eine Kombination aus staubiger Baustelle, Möbelverpackungsstation und Kleidersortierstelle, auf der wir nun im allgemeinen Chaos zu hausen hatten, mit der Mikrowelle als einziger Kochmöglichkeit, aus der wir im Stehen aßen. Sitzgelegenheiten gab es erst wieder nach fünf Tagen, als die Küche wiederhergestellt war.

Aufmunterung ließ uns jene Tante angedeihen, die schon auf der Beerdigung der Eltern durch ihren dramatisch-thetralischen Trauerauftritt atmosphärische Verdienste erworben hatte: Als ihr Svetik am Telefon vom Geschehen erzählte, kam als Kommentar zurück, das seien die Eltern, die uns dergestalt zu verstehen gäben, sie seien mit dem Verkauf des Hauses nicht einverstanden und all die „Katastrophen“ von Überschwemmung bis Rohrschmelze seien aus dem Jenseits uns zugesandten Strafen. Leider gab das Medium keine sachdienliche Information dazu, was wir mit den Haus sollten oder wie dem Bruder der Unterhalt desselben gelingen könne. War aber gut, dass wir drüber gesprochen haben.

Das war aber im Moment alles noch Zukunftsmusik. Im Augenblick saßen wir in einem triefenden Haus ohne Wasserversorgung (Kaltwasser konnte man wenigsten kurzfristig zum Füllen des Teekessels anstellen), ohne Strom in der Hälfte des Erdgeschosses (in der Küche Funktionierte zum Glück noch fast alles), durchzogen von einem starken Geruch nach nasser Pappe und Sauna – und in zwei Stunden sollte der potentielle Käufer zur Verhandlung aufkreuzen, das Haus selber hatte er zum Glück schon mit Svetlanas Onkel vor Wochen besichtigt. Svetiks anwesender Freund war Makler – er sollte von unserer Seite die Verhandlungen führen – und half uns, eine einigermaßen wohnliche Atmosphäre zu konstruieren, indem wir sämtliche, wegen der feuchten Wände ausgefallene Deckenleuchten durch Stehlampen ersetzten, was ein gemütlich-gedämpftes Licht gab, das gleichzeitig die schlimmsten sichtbaren Spuren der Havarie weichzeichnete. Auch wurden einige Bilder umgehängt und die Küche als Verhandlungszimmer präpariert. Blieb nur der penetrante, fiese Geruch. Was tun? Schließlich die rettende Idee. Ich kaufte ein halbes Kilo Fleisch im nahegelegenen Supermarkt, Zweibeln, Rosmarin und Knoblauch (viel Knoblauch!) und bereitete in einer großen Pfanne aromatisch duftendes Geschnetzeltes zu. Mit der dampfenden Pfanne wanderte ich dann durch alle Räume und erfüllte sie so mit den appetietlichen Gerüchen eines herzhaften Mahles, was das Saunaambiente zumindest zeitweise überdeckte. Später erfuhr ich aus professionellem Munde (Makler in Moskau), dass Apfelkuchen backen die beste „Aromawaffe“ sei: überdeckt angeblich jeden unangenehmen Geruch und erweckt unterbewusste Erinnerungen an „zu Hause und Mutters Kuchen“. Wenn das nicht hinhaut, reicht als Notbehelf Apfelsaft auf dem Herd kochen bis die ganze Bude duftet. Also aufgepasst! Wer jemals in eine Wohnung mit Apfelaroma zur Besichtigung kommt, verabschiede sich höflich aber schnell, sie hat mindestens Schimmel.

In unserem Fall lief es gut, der Käufer merkte nichts, blieb bei der Stange und nach drei weiteren Treffen auf denen es zuging wie auf einer Mischung aus orientalischem Teppichbasar und irakischer Geiselbörse (er drohte, log und schwindelt, dass sich die Balken bogen, um den Preis zu senken, als er nicht mehr weiter wusste, da wir alle seine Argumente haarklein zu entkräften wussten – deutsche Kleinkariertheit hat auch ihre Vorteile -, fing seine Frau mit Pöbeln und noch dreisterem Lügen an; wir blieben standhaft und erhöhten den Preis sogar noch, da ihnen die Gier auf das Gemäuer ins Gesicht geschrieben stand), holten wir schließlich einen recht guten Preis raus. Etwas weniger als erhofft, dafür hatten wir den Verkauf aber im ersten Anlauf erledigt und hinter uns. Nur einmal war es knapp, als die beiden unangemeldet vor der Tür standen und ich innerhalb von Sekunden einen Haufen Bauschutt samt Klemptner im Bad verstecken musste damit die Überraschungsgäste von der Rohrgeschichte nichts mitbekamen.

Ach ja, die Klemptner: Es wird ja gern und meist zurecht über die Russen und ihre Arbeitsmoral gelästert. Von Russen selber und bei uns im Westen. Während beim Westeuropäer auf diesem Wege eine nicht immer gerechtfertigte Überheblichkeit ans Tageslicht kriecht, herrscht in Russland zu dem Thema ein schon folkloristisches Verhältnis, wobei jene, die am lautesten jammern, besagte Folklore besonders ausgiebig als Ausrede für eigenen Müßiggang und Schlamperei nutzen: „Wir Russen sind eben so!“ Es geht aber auch ganz anders. Die beiden „Santekhniki“ (wie Klemptner auf Russisch heißen) in unserem Falle schufteten sieben Tage ohne Unterlass und leisteten in der Zeit hervorragendes, sowohl vom Umfang als auch von der Qualität: Einbauküche ausbauen, Wände und Decken aufstämmen, Rohre austauschen, Wände verputzen und streichen, Badezimmer und Küche teilweise neu verkacheln, Küchenkomplekt wieder einbauen und nebenher noch entdeckte Schäden an der Kanalisation beheben. Dabei waren sie immer nüchtern! Eine echte Sensation, da in Russland die Begriffe „Santekhnik“ und „voll-sein“ im Volksbewusstsein gleichsam Synonyme sind. Die von uns mit Bangen und Zähneklappern erwartete Rechnung für all das fiel am Ende sehr moderat aus, so dass wir auch noch ein angemessenes Trinkgeld geben konnten. Die Brigade meinte abschließend, wir seien aber auch sehr angenehme Arbeitgeber gewesen; obwohl ich ihre Arbeit mit akkurater Detailverliebtheit (vulgo: Pedanterie) überwacht hatte, waren wir immer höflich (wenn auch bestimmt) und hilfsbereit. Anscheinend ein ungewöhnliches Verhalten. Diese Erfahrung bestätigte, nur in einer anderen Branche, was ich bei uns in der Firma und während meiner Praktika hier in Russland schon oft bemerkt hatte: Wenn sie sehen, wofür sie arbeiten und richtig angesprochen werden, sind Russen hochmotivierte und äußerst kreative Meister ihres Fachs.

Es geht aber auch gaaanz anders. Nach der Aufteilung des elterlichen Hausrats hatten wir eine komplette (nagelneue) Schlafzimmergarnitur, einen Couchtisch und einen Stapel Kartons nach Moskau zu überführen. Dies sollte per Bahn geschehen, weshalb wir mit zwei Miettransportern zur nächstgelegenen Bahnstation fuhren (die, an der mich die Schwiegereltern knapp anderthalb Jahre zuvor während meiner Transsib-Tour verproviantiert hatten), um einen Container nach Moskau zu mieten und aufzugeben (im Sinne von abschicken, nicht abschreiben, obwohl das zuweilen aufs Gleiche hinausläuft). Die Aktion fand unter meiner Leitung statt, da ich gezwungen gewesen war, Svetik alleine nach Moskau zurückkehren zu lassen und selber noch drei Tage länger als geplant am Ort zu verweilen weil Reperaturarbeiten und Haushaltsauflösung sich als zu umfänglich erwiesen hatten. Bei der Ausfahrt aus der Stadt ein erstes Hindernis. Ich hatte einen einmonatigen Passierschein für die Stadt, allerdings nur mit einer einmaligen Einreise. Würde ich jetzt zum Bahnhof fahren, der ausserhalb der Stadtzone lag, käme ich nicht mehr zurück. Langes hin und her, letztenendes gelang es den beiden Fahrern und mir mit dreifaltigem Schwiegersohncharme und einer Tafel Schokolade, bei der mütterlich-strengen Wachchefin eine mündliche Wiedereinlassgarantie zu erschinden, „aber nur bis zu meinem Schichtende in drei Stunden“. Von da aus weiter zum Frachtbahnhof. Selten einen derart trüben Ort gesehen. Auf einer bis zum Horizont reichenden, baumlosen, verschneiten Ebene, über die pfeifend der Wind wehte, eine Holzbaracke, drei zweistöckige Plattenbauten, ein Wellblechhangar, alles in mittelprächtigem Zustand, und zwei Schienenstränge, an denen entlang sich mehrere Dutzend Container unterschiedlicher Größe stapelten, alles umgeben von einem siechen Zaun. Darüber ein bleigrauer Himmel und die kalt-ausgebleichte Sonne. Die Einfahrt zum Bahnhofsgelände versperrte eine Kette, daneben an der Barackenwand ein Schild „Einfahrt streng nur nach Aufforderung“. Als wir uns näherten, senkte sich die Kette und gab das Tor frei, ohne dass sich jemand blicken ließ. Wir deuteten dies als Aufforderung. Kaum war der erste Transporter auf dem Hof, wurde die Barackentür aufgerissen und ein zahnloser Kobold humpelte heraus, mit einem Gesicht und einer Artikulation als sei er vorzeitig von einer Entziehungskur getürmt, in wattierter Jacke und Filzstiefeln wie ein Lagersträfling, und pöbelte laut los, wie wir es wagen könnten, trotz des Schildes ohne Erlaubnis das Bahnhofsgelände zu betreten. Jedenfalls wurde mir das so von den anderen gesagt, ich selbst wurde aus den von ihm ausgestoßenen gutturalen Lauten des Unwillens nicht schlau. Nach einigem Hin-und-Her durften wir schließlich doch auf den Hof fahren. Nun begann das eigentliche Abenteuer: die Bearbeitung der notwendigen Dokumente und das Beladen des Containers.

Zunächst durch dunkle Korridore irrend das Anlaufbüro gesucht, in dem wir unser Anliegen vortrugen. Von da mit einem Laufzettel wiederum durch weitere dunkle und verlassene Korridore in ein anderes Büro geschickt. Dort einen Containertyp zugeteilt bekommen und einen Zahlungsbeleg. Mit dem wieder ins erste Kabinett, die fällige Bearbeitungsgebühr entrichtet. Auf die Frage, ob das alles sei, hieß es „ja“, worauf wir uns ins Freie begaben um den Container zu beladen. An der Containersammelstelle niemand zu sehen. Nach einigem Suchen stöberten wir ein etwas verwirrt wirkendes Männlein auf, das auf alle unsere Fragen nur panisch ausrief: „Ich weiß nichts! Ich weiß nichts!“ und sich eilig aus dem Staub machte. Bald darauf entdeckten wir in einem leeren Container noch eine weitere Gestalt, die vom Boden des Behälters Kürbeskerne aufklaubte und in einer Streichholzschachtel sammelte. Sobald er uns erblickte, ließ er das Schächtelchen mit der „Beute“ unauffällig in der Jackentasche verschwinden und tat unbeteiligt. Wir wechselten untereinander amüsiert-zweifelnde Blicke, wandten uns dann aber doch mangels anderer Möglichkeiten an ihn, wo wir den uns zugewiesenen Container fänden. Auch hier die Antwort „Ich weiß nichts, ich weiß nichts!“, diesmal desinteressiert gemurmelt, derweil er sich beiläufig verkrümelte. In diesem Moment tauchte eine resolute Endvierzigerin auf, verlangte im Befehlston unsere Dokumente. Freilich, wie hätte es anders sein können, fehlte uns noch ein nötiges Schriftstück und die Plombe, was sie sofort erkannte und uns schnurstracks in den Bürotrakt zurückschickte. Wir also wieder ins Büro Nummer zwei, wo uns ein Formular überreicht wurde, in dem wir sämtliche aufgegebene Gegenstände mit ihrem momentanen Wert eintragen sollten – und das bei einem haufen Büchern und Hausrat aus Familienbesitz! Die verantwortliche Mitarbeiterin war aber zum Glück hilfsbereit und kompromisswillig und soufflierte einige allgemeine Phrasen und Wehrtschätzrichtlinien, die die ganze Prozedur deutlich vereinfachten. Noch einmal ins erste Kabinett zwecks Zahlung der fälligen Versicherungskosten und Erhalt der Verplombung und auf ein neues zum Containerlager.

            Die ungeduldig wartende Container-Queen nahm den inzwischen beachtlichen Stapel Papiere in Empfang und wählte einen Container aus. Auf einen Ruf von ihr erschien einer der beiden Sonderlinge von vorhin und erklomm den Kran der Station, der sichtlich einst für ebenerdige Bedienung gebaut worden war, an dem man aber, anscheinend wegen des unwirtlichen Klimas und zur besseren Übersicht für den Kranfahrer einen Pilotenverschlag derartig abenteuerlich angebracht hatte, dass sich die Finger streuben, das Wort beFESTigt zu tippen und ich mich mit Händen und Füßen gewehrt hätte, da reinzuklettern. Der erste uns zugewiesene Container wurde angehoben und vor uns abgestellt. Wie sich herausstellte, war er nicht zu verschließen. Also auf ein neues. Diesmal erhob sich der Container unter Zurücklassung seiner Bodenpartie. Im dritten Anlauf schließlich klappte es. Zwar wies der Boden Spalten auf durch die der schmutzige, das Bahnhosgelände bedeckende Schnee durchschimmerte, doch sonst war er „intakt“. Und für die Abdichtung hatten wir in weiser Voraussicht alte, dicke Wollecken dabei. Nun so schnell wie möglich (es war um die minus 25 Grad) die Sachen verladen und reisefest gemacht, den Behälter verschlossen und verplombt. Daraufhin bedeutete uns die Bahnhofsangestellte, ihr zu folgen. Auf einem zugigen Flur wurden wir abgestellt, sie verschwand durch eine Tür und erschien bald darauf hinter einem Schalterfenster, durch das wir nun die gesammelten Formulare und Quittungen reichten. Erste Versuche einer Kommunikation mit dem Computer; leider erfolglos. Ein weiterer Anlauf. Wieder nichts. „Wir haben kein Netz, müssen wir wohl warten, bis wir welches bekommen.“ Auf die Frage, wie lange das denn dauern würde, hieß es, das sei ungewiss, könne aber durchaus etwas mehr Zeit beanspruchen. Nach einer viertel Stunde reicht es mir. Ich frage, ob sie Internet oder Intranet haben. Empörte Antwort: „Internet natürlich!“, als ob Intranet www für Arme sei. Svetas Bruder und ich zwängen unsere Köpfe gemeinsam durch das Schalterfenster (sah sicher reichlich albern aus); es war Intranet! Wir machen den Vorschlag, dass „restart“ eine erfolgversprechende Option sei, was brüst abgelehnt wird. Wir bleiben hartnäckig. Die Ablehnung stellt sich als unwissenheitsbedingt heraus, die gute Frau hat schlicht keinen Schimmer, was „restart“ ist. Gemeinsam erklären wir ihr das geforderte Vorgehen und – siehe da – alles funktioniert. Der Container wird datentechnisch erfasst und bearbeitet, wir erhalten unsere Quittung und können endlich den Rückweg antreten. Das reine Beladen hat 20 Minuten gedauert, die Formalitäten fast zwei Stunden.

Abends teilten mir dann die Klemptner mit, dass sie die Arbeit doch zeitig beenden konnten, nachdem ein zufällig entdeckter Defekt an der Kanalisation dies zunächst in Frage gestellt hatte. Wenigstens das hatte geklappt, auch Dank der Kreativität und des persönlichen Einsatzes der beiden, von denen einer extra Urlaub genommen hatte, um die Arbeiten schnellstmöglich zu beenden. So ließ sich mein außerplanmäßiger Zusatzaufenthalt doch noch im geplanten Rahmen halten, was wegen des schieren Arbeitsumfangs immer wieder zweifelhaft gewesen war.

Während all dieser Zeit und der intensiven Beschäftigung mit der Hinterlassenschaft der von Svetlanas Eltern fiel mir etwas auf: Ich hatte die „alten“ Ryabukhins nicht besonders gut gekannt, den Vater hatte ich einschließlich Hochzeit vier mal gesehen, die Mutter sech mal. Wir verstanden uns gut und ich mochte sie, aber sie waren mir doch etwas fremd geblieben, einfach, weil unsere seltenen und kurzen Treffen für ein echtes Kennenlernen nicht ausgereicht hatten. Im Laufe der Wohngungsauflösung nun sah ich so viele Fotos, persönliche Dinge, hörte von ihren Freunden immer neue Erzählungen über sie, wir „retteten“ das Haus, welches ihr ganzer Stolz gewesen war und ich sah, wie die Freunde beim Anblick bestimmter Gegenstände weinten, so dass sie mir am Ende dieser zehn Tage tatsächlich zu Verwandten geworden waren. Mit jedem Tag, den wir im Haus verbrachten, empfand und begriff ich zunehmend den Verlust, den ihr Tod verursacht hatte. Ein eigentümliches Gefühl, jemanden richtig kennenzulernen und ihn als Verwandten zu begreifen, erst nachdem er gestorben ist. Hatten Svetik und ich zunächst noch geschwankt, ob wir zum Jahrestag des Todes zu der in Russland üblichen Gedenkfeier nach „45ki“ fliegen sollten, so bestand nach dieser Woche kein Zweifel mehr, zumal die gemeinsame Bewältigung der Abenteuer dieser Tage uns mit Verwandten und Freunden der Eltern im Ort zusammengeschweißt hatten. Dass ich dann aus bürokratischen Gründen nicht fahren konnte – ich bekam überraschend keinen Passierschein für die Stadt – steht auf einem anderen Blatt.

Etwas Absurdes noch zum Abschluss, vielleicht nicht ganz passend aber doch Teil der ganzen Geschichte: Wie schon früher erzählt, gibt es in nach wie vor stramm komunistisch regierten dieser Stadt einen Metal-Club, im Keller des Pionierpalastes gelegen, mit dessen Betreiber wir freundschaftlichen Kontakt haben. Da wir nun schon im Ort waren und das Haus sich als eine ungemütliche Baustelle darbot, beschlossen wir eines Abends, dorthin auszugehen. Beim Betreten wurden wir enthusiastisch empfangen, wunderten uns aber, dass statt des üblichchen Geknüppels, Gegrunzes und Geschraddel (man pflegt da eine bedauerliche Vorliebe für Death Metal) eher konventioneller Hardrock, gemischt mit fiesem russischen Schlager lief. In einer prominenten Ecke des Gastraums saßen mehrere gesetzte Gestalten fortgeschrittenen Alters und ebensolcher Stimmung, die zuweilen von ihrer reichlich gedeckten Tafel aufstanden und gleichermaßen bedenklich schwankende wie vergebliche Tanzversuche unternahmen. Auch verschwand Sergej, der Clubbetreiber, nach der Begrüßung gleich wieder um sich mit dem an diesem Ort doch reichlich morganatisch anmutenden Kontingent gemein zu machen. Was war denn das, bitteschön?! Verwundert nahmen wir das erste Bier und plauderten in einer Ecke mit Bekannten unter Beobachtung des absonderlichen Szenarios im Saal. Bald brach das erstaunliche Kollektiv unter gewissen Koordinations- und Motorikschwierigkeiten auf, worauf Sergej zu uns kam und die Situation aufklärte (derweil änderte sich die Musik schlagartig und die weibliche Dorfjugend begann um einen Dance Pole herum Bewegungen zu vollführen, von denen ihre Eltern definitiv nichts wissen wollen und die mich die Tatsache zu schätzen wissen ließen, dass ich glücklich verheiratet bin und kein hormongesteuerter 16jähriger voll Komplexen und schmutzigen Fantasien):

Nachdem der Club jahrelang unter misstrauischer Beobachtung der Stadtoberen gestanden hatte, war der Betreibercrew durch geschickte Lobbyarbeit und ein konstvoll gesponnenes und hemungslos eingestztes Beziehungsgeflecht geglückt, die Lokalität so weit zu etablieren, dass die streng altkommunistische Stadtadministration einen Teil ihrer Besäufnisse dort zu veranstalten begann, wobei das natürlich auf Kosten des Hauses geht, gleichzeitig aber Protektion von ganz oben garantiert. Auf deutsche Verhältnisse übertragen ist das so als versammle sich die erzchristlich-reaktionäre CSU-Stadtverwaltung eines bayerischen Provinzkaffs regelmäßig zum Zechen im örtlichen Death-Metal-Club und fände das da auch noch so dufte, dass sie ihn protegieren und vor allerlei Unbillen schützen. Eine wahrlich bemerkenswehrte Situation. Wie heißt es dazu passend schon bei Tyutshev, einem russischen Dichter des 19. Jahrhunderts: „Umom Rossiya ne ponyat’…“ – „Mit dem Verstand begreift man Russland nicht…“.

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