Sibirienreport (April 2002)

Sibirienreport (April 2002)

Hallo allerseits,
nach langer Zeit mal wieder ein Lebenszeichen von mir. Die letzten fünf Wochen waren ziemlich ereignisreich, ich war zehn Tage in Novosibirsk (für die geographie-schwachen unter Euch: ca. 3500 km östlich von Moskau), dann zehn Tage in Novokusnezk (ca. 400 km süd-östlich von Novosibirsk), dann noch zehn Tage in Kemerovo (ca. 300 km östlich von Novosibirsk) und seit einer Woche bin ich wieder in Novosibirsk selber.

Meine Ankunft in Novosibirsk war schon sehr eindrucksvoll: Die Flugdauer von Moskau aus beträgt drei Stunden (Inlandflug!) und außerdem ist die Stadt in einer Zeitzone, die der Hauptstadt um drei Stunden voraus ist. Sprich, man fliegt in Moskau um 1.00 nachts los und kommt um 7.00 morgens an. Kurz vor dem Landeanflug, noch über den Wolken, erhoben sich am Horizont die ersten Vorboten des Morgenrots und tauchten das Wolkenmeer in eine unebschreibliche Farbencollage in Rot, Rosa, Blau und Violett, die in ihrer eisigen Intensität die Kälte der Außentemperaturen schon beim bloßen Betrachten fast körperlich spürbar machte. Ein erster Eindruck von der Kraft der Natur Sibiriens.

Endlich war ich hier, irgendetwas hatte mich schon immer hierher gezogen, je mehr in die „Wildnis“, je weiter nach Sibirien, desto besser. Wie meinte ein Freund in Berlin kürzlich: „Du kämpfst wie ein Löwe dahin zu kommen, wo dein Großvater vor vierzig Jahren wie ein Löwe gekämpft hat, damit sie ihn nicht hinschicken“. Schnoddrigkeit und grammatikalische Unbeholfenheit des Spruchs mal beiseite, trifft er die Sache genau. Ironie des Schicksals: für Großvatern ist Sibirien bis heute der Inbegriff kommunistischen (oder wie er sich ausdrückt: bolschewistischen) Terrors und Grauens – und ich habe nichts Besseres zu tun, als – auch noch im Winter! – mit großer Begeisterung genau da hinzureisen.

Beim Verlassen des Flugzeugs war es noch Dunkel, nur ein dünner heller Schein über den Bäumen am Rollfeld, und minus 20 Grad. Der Fahrer, der mich erwarten sollte, war nirgends zu sehen und so wartete ich erstmal alleine auf mein Gepäck (ich sollte insgesamt eine Stunde warten – unter freiem Himmel, die Gepäckausgabe in einem Schuppen abseits des Flughafengebäudes öffnete erst unmittelbar vor Anwerfen der Förderbänder). Irgendwann schob sich schnaubend eine walrossartige Gestalt durch die Menge der von einem Bein aufs andere tretenden, stellte sich als mein Fahrer vor und erklärte, als deutlich wurde, dass es wohl noch dauern würde, er gehe schon mal ins Auto, ihm sei zu kalt und außerdem könne ich meine Koffer ja wohl alleine schleppen, ich sehe schließlich kräftig genug aus. Sehr schön! Zwar schmeichelte mir sein Kompliment hinsichtlich der kräftigen Statur (hab ich mich also morgens nicht vergeblich mit Frühsport gequält), doch wäre genau das sein Job gewesen: Mit mir warten und dann beim Kofferschleppen helfen, schließlich hatte ich vierzig Kilo Gepäck dabei (Winter-, Frühjahrs-, Sommerkleidung und allerlei Schulungsmaterial).

Jenissei, Aussichtplatform
Jenissei, Aussichtplatform

Nachdem er mir mit großem Interesse und Händen in den Hosentaschen zugesehen hatte, wie ich meine Koffer in sein Auto wuchtete, fuhren wir los. Der Flughafen liegt ungefähr fünfzig Kilometer von der Stadt entfernt, so dass man einige Zeit zum Plaudern hat, was der gute Sasha, wie er sich schließlich vorstellte, denn auch tat, allerdings sehr eigenwillig. Zunächst allgemeines Genörgel über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und unserer Firmenleitung im Besonderen. Dann war ich an der Reihe: „Du bist also Praktikant? Hm! Schon wieder einer! Dauernd schicken die uns aus Moskau Praktikanten. Haben die da keine Kredite zu vergeben, so dass die Praktikanten zum Lernen zu uns müssen? Und wie sollen wir hier arbeiten, wenn wir dauernd irgendwelche Leute unterrichten? Das hält doch nur von der Arbeit ab…usw., usw.“ Ein ermutigender Einstand!

Bei der ersten Durchquerung im Morgengrauen machte Novosibirsk keinen besonders erfreulichen Eindruck: Viel Platte, viel Beton und alles reichlich verstreut, ohne eigentlichen Stadtcharakter. Dieser Eindruck sollte sich später bestätigen. Die Stadt zu beiden Seiten des Ob hat – nachdem der Bau der Transsibirischen Eisenbahn im 19. Jahrhundert einen ersten Schub ausgelöst hatte – eine nennenswerte Entwicklung erst zu Sowjetzeiten erfahren, was ihr (zumindest optisch) nicht bekommen ist:
Vom alten Stadtzentrum ist so gut wie nichts übrig, es gibt im Grunde nur zwei rechtwinklig zueinander stehende, von stalinistischem Barockimitat gesäumte Hauptstraßen, an die sich einige Bezirke mit Chruschchew-Backstein, dann Chruschchew-Platte und schließlich 70er-Jahre Platte anschließen. Lichtblicke sind nur das reichliche Grün auf den Straßen (wie ich nach Ausbruch des Frühlings bemerkte) und ein recht niedlicher „zentraler Park“, in dem sonntags bei schönem Wetter Paare aller Altersklassen spazierengehen. Das ist in Russland tatsächlich so: An den Wochenenden gehen die im Park festlich spazieren, fast so wie auf Bildern Paris’ oder Berlins im 19. Jhd. Um diesen schmalen „Streifen“ Stadt im herkömmlichen Sinne liegen Industriegebiete und große Wald- und Sumpfareale, in denen sich Plattenbausiedlungen und (meist heruntergekommene) Industrieanlagen verteilen. Wenn auch nicht äußerlich, vom Charakter her erinnert das ganze etwas an Peine-Salzgitter: eine ziemlich seelenlose administrative Zusammenfassung weit verstreuter mehr oder minder öder Zeugnisse menschlichen Siedelns.

Zwar hat Novosibirsk tatsächlich eine erstaunliche Anzahl an Theater und Konzertsälen zu bieten, doch das macht das Stadtbild auch nicht schöner. In Akamdemgorodok, der weit außerhalb gelegenen Wissenschaftsstadt, die den Ruhm Novosibirsks als Zentrum sowjetischer Forschung begründete, soll es angeblich wirklich sehr nett sein. Bisher hatte ich nur noch nicht die Zeit da hinzufahren. Sollte ich es schaffen, werde ich berichten.

Die Ankunft in der Dienstwohnung besserte die Situation nicht auf: Zunächst kamen wir gar nicht in die Wohnung rein, da der Fahrer keinen Schlüssel hatte und niemand den dort schlafenden anderen Praktikanten über meine Ankunft informiert hatte. Als wir ihn endlich wach hatten und ich die Wohnung betrat, kam ich doch ins Grübeln, worauf ich mich eingelassen hatte: eine absolute Bruchbude, völlig runtergekommen, von eigenwilligen Sauberkeitsvorstellungen geprägt (wobei ich wirklich nicht sonderlich anspruchsvoll bin), minimalistische Einrichtung: nicht einmal genug Besteck für zwei Bewohner in der Küche. Die Behausung teilte sich in zwei Räume, einer davon ein Durchgangszimmer, in dem ich einem Flüchtling gleich auf der Couch schlafen sollte bis Oliver, mein Mitbewohner, dessen Zeit in Novosibirsk sich dem Ende zuneigte, auf seine nächste Ausbildungsstation weiterzog.

Oliver ist Österreicher, eigentlich ganz okay, aber alles und jedes mit depressivem Schmäh überziehend, damit hartnäckig eine deprimierend-graue Aura um sich verbreitend, und so stets kunstvoll eine dem materiellen Ambiente entsprechende seelische Atmosphäre kreierend.

Trotz allem, ich war in Sibirien, das Wetter war zwar kalt aber sonnig, ich sollte mich mit etwas sinnvollem beschäftigen – und das ließ vieles unwichtig werden. Zumal ich dann ja auch bald aus der Wohnung rausmusste, was sich im Endeffekt als deutliche Verbesserung erwies.

Die Arbeit ist spannend, obwohl ich die ersten zehn Tage zunächst stapelweise knochentrockene Kreditierungsrichtlinien durchackern durfte, ein überaus gebremstes Vergnügen, das zu erleben mir schon vorher in Moskau vergönnt gewesen war. Dann wurde ich allerdings zur praktischen Ausbildung nach Novokusnezk geschickt, was die Sache schlagartig änderte. Die Kolleginnen in der Kreditabteilung dort haben sich ein Bein ausgerissen, um mir so viel wie möglich beizubringen. Das war schon mal sehr dufte, zumal die auch sonst überaus kurzweilig waren. Dazu kommt, dass die Arbeit mit den Klienten richtig Spaß macht weil das alles Kleinbetriebe sind, die mehr als hart an der Grenze zur Illegalität operieren, wozu sie allerdings durch das hiesige Steuersystem mehr als weniger gezwungen sind. Zwei schöne Beispiele:
Ein Kunde betreibt ein Fuhrunternehmen das zwar irgendwie angemeldet ist, aber fast komplett an der Steuer vorbeiläuft. Für drei Kleinlaster zahlt der Mensch insgesamt 750 rubel (53 DM) Steuern im Monat. Außerdem kauft er bei einem Kumpel Eisenstreben, die dieser in seiner Fabrik klaut, und schmiedet daraus Grabschmuck (in Russland sind Gräber oft mit verzierten Zäunen oder Metalldenkmälern versehen), den er dann auch schwarz vertickt. Er hatte schon einen Kredit laufen, den aber auf das Geschäft seiner Frau, das allerdings vor drei Monaten abgebrannt war (wovon wir durch Zufall erfuhren, obwohl die beiden das laut Kreditvertrag hätten melden müssen), hatte außerdem per Handschlag auf Pump einen Laster für 10 000$ gekauft und wollte nun einen weiteren Kredit, um das Gefährt zu bezahlen. War natürlich nicht.

Ein anderer, auch Spediteur, hat einen Wagenpark von zehn 12-Tonnern, die alle (!!!) aus Teilen schrottreifer LKW zusammengeschweißt wurden. Das noch Erstaunlichere: erstens sahen die wie neu aus und zweitens hat er die alle legal ohne Bestechung durch den russischen Sicherheitscheck bekommen. Auch seine Fahrer waren alle legal angemeldet und er zahlte brav sämtliche Sozialbeiträge usw. Sein Argument: „Mein Einkommen geht so dermaßen an der Steuer vorbei, dass ich bei diesen leicht überprüfbaren Formalitäten sehr korrekt bin, damit sie überhaupt keinen Anlass haben, sich mit mir zu beschäftigen.“ Nachdem er uns seine schwarzen Bücher (=Schulhefte, in denen Einnahmen und Ausgaben handschriftlich eingetragen und abgerechnet wurden) gezeigt hat und die Kreditexperten die durchgerechnet hatten, bekam er anstandslos seinen Kredit.

Während solche Unternehmen bisher niemals die Chance hatten, außerhalb mafiöser Strukturen einen Kredit zu bekommen, da die Banken a) kein Interesse an der Arbeit mit Klein- und Mittelbetrieben hatten, b) unglaublichen bürokratischen Aufwand trieben und c) nur die offizielle Buchhaltung (die bei eben diesen Unternehmen so gut wie nie existiert) als Kreditierungsgrundlage akzeptierten, ist unser Programm darauf ausgerichtet, Mittelstandsförderung zu betreiben, indem den Banken gezeigt wird, dass auch Kleinkunden Geld bringen, dass diese wachsen und zu Großkunden werden können, dass ein Bürokratieabbau Kosten senkt und neue Klienten bringt, und zu guter Letzt, wie diese meist nur halblegalen Firmen angemessen analysiert werden können, um ein reales Bild ihrer Finanzsituation zu bekommen. Dazu werden Lagerbestände kontrolliert, schwarze Bücher als Rechnungsgrundlagen akzeptiert und der private Hausrat und Ersparnisse in die haben-Seite der Firmenbilanz mit einbezogen. Ziel ist, so eine win-win-Situation zu schaffen: Die Banken verdienen Geld an den Kleinkrediten und die Kleinbetriebe haben eine Chance auf legale Kredite zu reellen (wenn auch für unsereins kaum nachvollziehbar hohen) Zinsen, die sie nicht zwingen, für irgendeinen Wucherer zu arbeiten, sondern ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich zu entwickeln und zu wachsen. Die Idee dahinter ist, beim Entstehen eines Mittelstandes zu helfen, was dazu beitragen soll, das Land langfristig wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren.

Mein Weg von Novosibirsk nach Novokuzneck war nicht unbedingt der direkte: Ursprünglich war geplant, dass ich zunächst nach Kemerovo sollte. Die Fahrt dahin dauerte vier Stunden und führte durch eine Landschaft, die jedem deutschen Klischee von Sibirien entsprach: eine schnurgerade Straße, beidseitig gesäumt von endlosen verschneiten Birkenwäldern. Zuweilen tauchte eine futuristisch anmutete Stahlkonstruktion auf, die darauf hinwies, dass wir nun das Gebiet einer Kolchose oder Sovkhose (die zwei Varianten sowjetischer Kollektivlandwirtschaft, die heute als genossenschaftsähnliche Privatbetriebe nach wie vor die russische Landwirtschaft dominieren) mit heroischem Namen a la „Roter Pflug“ durchquerten. Nach solchen Hinweismonumenten folgten meist sich bis zum Horizont ausdehnende Felder, die nach einer Weile wieder von Birkenwald abgelöst wurden.

Im Hotel in Kemerovo stellte sich heraus, dass für den Fahrer und mich unterschiedliche Zimmer gebucht waren. Für mich ein Einzelzimmer, in dem jedoch zwei Betten standen, für ihn die billigste Variante: ein Bett in einem Sammelzimmer, d.h., er hätte sich seine Unterkunft mit zwei wildfremden Gestalten teilen müssen, worüber er sich, wie ich fand, zurecht empörte. Aus Gutmütigkeit, egalitär-anarchistischem Gerechtigkeitsempfinden und weil es mir peinlich war, derartig bevorzugt zu wohnen, bot ich ihm an, das zweite Bett in meinem Zimmer zu nutzen, worauf er begeistert einging (von da an war der grummelig-faule Sasha mir gegenüber geradezu ein Schatz). Allerdings bereute ich meine Höflichkeit bald: der Knabe schnarchte derartig, dass ich die ganze Nacht so gut wie nicht schlief und am nächsten Morgen wie gerädert war.

Als der Wecker der nächtlichen Marter endlich ein schmerzhaftes aber erlösendes Ende setzte, fuhren wir ins Kemerovoer Office unserer Firma, wo man mir eröffnete, die Pläne hätten sich geändert und ich komme zunächst nach Novokuzneck, eigentlich meine zweite Station. Also wieder zum Hotel, Sasha nach Hause geschickt, meine Sachen ins Auto des Fahrers aus Kemerovo – und ab in Richtung meines neuen Zielortes. Wieder stundenlang Birkenwälder, „Roter Pflug“ oder „Internationale Solidarität“, Felder so weit das Auge reicht, Birkenwälder usw. usw.

Novokuzneck wurde in den 30er Jahren im Kuznecker Kohlebecken auf dem freien Feld in Südsibirien errichtet. Da man die Bergleute irgendwie dorthin, weitab jeder Zivilisation, locken musste und obendrein noch Ideale hinsichtlich den Lebensverhältnissen des „neuen sozialistische Mensch“ hatte, gab man sich reichlich Mühe. Im eigentlichen Stadtkern dominiert die aus Stalins Tagen übliche Mischung aus „Barock“, „Klassizismus“ und Größenwahn, wobei viel Wert darauf gelegt wurde, das Ganze mit reichlich Grün zu durchsetzen. Majakovskij schrieb damals: „…wir bauen eine neue Stadt: Novokuzneck, die Gartenstadt…“. Und tatsächlich, die „Altstadt“ und auch noch die angrenzenden neueren Bezirke haben – trotz offensichtlichen Sanierungsbedarfs – etwas angenehmes, gemütliches; die Stadt weiß zu gefallen. Je weiter vom Zentrum entfernt, desto betrüblicher wird die Angelegenheit natürlich, aber das ist ja auch bei uns oft nicht anders. Was allerdings richtig gemein ist, ist die Tatsache, dass im Winter zum Streuen manchmal Kohlestaub verwendet wird (ist am billigsten), was einen verheerenden Effekt auf das Stadtbild hat.

Die Menschen in der Stadt sind offen, unkompliziert und kontaktfreudig (ganz anders als in Novosibirsk, wo sie sich vor Arroganz, die Hauptstadt Sibiriens und ein bedeutendes Forschungszentrum zu sein, kaum zu einem vernünftigen Gespräch herablassen), wie ich bei den zahlreichen abendlichen Ausflügen mit den Kreditexpertinnen feststellen konnte. In diesem Zusammenhang ein erstaunliches Erlebnis zum Thema Kai und die Frauen:
Eines Abends saß ich mit zwei Kreditexpertinnen in einer Kneipe beim Bier. Es lief Karaoke, eine recht ansehnliche junge Dame (lange schwarze Haare, strahlend blaue Augen – in Sibirien übrigens keine Seltenheit) sang gekonnt mit beeindruckend guter Stimme. Wir, schon etwas fortgeschrittener Stimmung, applaudierten. Nachdem die eine Kreditexpertin gegangen war, orderte die andere einen Song, und während sie sang flirtete mich die Schöne, der wir applaudiert hatten, so heftig an, dass sogar ich (!) es gemerkt habe. Und das will eine Menge heißen. Man muss dazu sagen, dass sie mit einem Jüngling am Tisch saß, der offensichtlich ihr ständiger Begleiter war. Kurz bevor die schwarzhaarige Versuchung das Lokal verließ, huschte die Kellnerin auf mich zu und übereichte mir konspirativ einen Zettel mit der Bitte, meiner Begleiterin nichts davon zu erzählen. Kurz, der Kassiber war eine Aufforderung, die Verfasserin unter der angegebenen Nummer anzurufen.

Beeindruckend, ist mit ihrem „Molodoj Chelovek“ (Jungen Mann=Freund), unterwegs und gräbt fremde Männer an. Einige Tage später haben dann die Kollegin und ich aus Neugierde angerufen, gleichzeitig wollte ich aber auch kundtun, dass es mit einem Treffen nix wird (selbst wenn ich gewollt hätte, hatte ich nicht die Zeit dazu). Ich hatte ihre Mutter dran, die hörbar empört war, dass ihre Tochter mit irgendwelchen Männern außer einem bestimmten Kontakt hat. Mit anderen Worten, der Knabe aus der Kneipe war wohl der Traumschwiegersohn (so sah er jedenfalls auch aus). Die gute Anja wird wohl ziemlichen Ärger bekommen habe. Ich fand die Begebenheit aber ganz lustig, wobei ich mich bis heute frage: seh ich so umwerfend aus, dass quasi verheiratete Frauen mir unzüchtige Angebote machen, hat sie bloß die Aussicht, sich einen Ausländer zu angeln zu ihrem forschen Vorgehen inspiriert, oder war Mamas Traumschwiegersohn einfach so öde? Ich werde es wohl nie erfahren.

Allerdings ist „die Russin an sich“ auch weitaus direkter wenn „Mann“ ihr gefällt, als es bei uns üblich ist. Der Grund für diese Forschheit liegt, wie mir eine Bekannte später in Novosibirsk erklärte, im deutlichen Frauenüberschuss in der russischen und besonders sibirischen Bevölkerung, was dazu führt, dass „Mann“, sofern er sich einigermaßen regelmäßig wäscht, wenigstens vier Tage die Woche nüchtern und generell in der Lage ist, eine ansatzweise gepflegte Konversation ohne Schlüpfrigkeiten und Proloiditäten mit einer Frau zu führen und sich nicht völlig geschmacklos kleidet, zum allgemeinen Objekt weiblicher Begierde wird. Da es anscheinend nicht allzu viele russische Männer gibt, die diesen an sich bescheidenen Ansprüchen genügen, zumal in der Provinz (eine bitter-sarkastische Redensart unter Russinnen antwortet auf die Frage „Wie sollte ein vernünftiger Mann aussehen?“ mit: „Wenigsten ein bisschen besser als ein Affe“), ist die Konkurrenz groß und energische weibliche Initiative gefragt. So unkompliziert, offen und taktvoll die meisten russische Männer im Umgang mit Freunden und Kumpels sind, im Kontakt mit der Weiblichkeit scheint Trotteltum vorzuherrschen, was bei den Damen einen erbarmungslosen Jagdtrieb auf die wenigen zurechnungsfähigen Exemplare auslöst. In diesem Zusammenhang noch eine Begebenheit, die mir kurz darauf widerfuhr:

Meinen letzten Abend in Kemorovo verbrachten wir bei Bier und Knabberwerk am Küchentisch der Freundin eines Arbeitskollegen. Als ich mich, mit Hinweis auf meine fühmorgendliche Abfahrt verabschieden wollte, schlug die kleine (!) Schwester der Gastgeberin, eine drall-kecke 17-jährige mit träge-lasziven Bewegungen und einer Figur, von der ich irgendwo einst sinngemäß las: „… mit ein paar Pfunden zuviel, die in diesem Alter noch prall-üppige Wollust verheißen, bevor sie in wenigen Jahren dazu führen, dass sie sich übellaunig und quallig von Diät zu Diät hungern wird“, mit einem tiefen Blick mir in die Augen vor, dass ich bei ihnen übernachte. Der Fahrer könne mich morgens auch zum Kofferpacken von der Wohnung ins Hotel bringen. Das würde zwar die Abfahrt aus der Stadt leicht verzögern, doch sei es schade, wenn ich jetzt aufbreche. Naja, wie üblich hab ich nicht gepeilt, worum es eigentlich ging, verabschiedete mich mit der Begründung, ich sei schließlich nicht auf Vergnügungsreise und werde nachmittags in Novosibirsk erwartet – und musste mich dann im Taxi vom Arbeitskollegen auslachen und aufklären lassen, dass ein solches Angebot, in dieser Form vorgebracht, üblicherweise nicht auf einsame Stunden auf einer unbequemen Couch im Wohnzimmer, sondern auf kurzweilig-intime Zweisamkeit im Bett der gastfreundlichen Schönen hinauslaufe. Später wurde mir hinterbracht, die holde Maid habe sich noch sehr enttäuscht über meine Begriffsstutzigkeit und die deshalb verschenkte Gelegenheit geäußert. Was mich im Nachhinein etwas tröstet, ist die Tatsache, so der quasi-Pädophilie entgangen zu sein, und dass ich in meinem Alter offensichtlich noch Frauen beeindrucke, die theoretisch meine Töchter sein könnten.

Zum Thema russische Gastfreundschaft noch ein Nachtrag zum Karaoke-Erlebnis: die Kollegin und ich zogen später noch in eine andere Kneipe, wo wir einen der Computerleute aus der Bank mit seinen Freunden getroffen haben. Die haben mich erst zu Vodka und Essen eingeladen, was beim Preisniveau der russischen Gastronomie eine echte Heldentat ist, und mich dann noch morgens um drei in die Banya (russische Sauna) genötigt. Die Fahrt dahin entwickelte sich zu einer skurrilen Reise in einem völlig überladenen VW-Bus durch die Industrievororte der Stadt, vom Vodkarausch in der Wahrnehmung seltsam verzerrt und unwirklich, unterlegt von Bangigkeit, wo das alles enden würde (schließlich wurde in unseren Medien ständig über arme Ausländer berichtet, für die ähnliche Abenteuer damit endeten, dass sie sich bis auf die Unterwäsche ausgeplündert irgendwo im Nirgendwo wiederfanden). Am Ziel erwartete uns eine ältere Dame, führte uns in eine überaus schöne und gemütlich Banya, bot uns Bier (wurde gerne genommen), Knabberzeug (auch gut) und machte sich anheischig, falls nötig, weibliche Gesellschaft zu organisieren (wurde dankend abgelehnt). Nach einem ersten, etwas ausnüchternden Schwitzgang wurde nun mit Biertrinken, Armdrücken (hab ich gewonnen, haha), Liegestützwettbewerben (haben die gewonnen) und weiteren Schwitzgängen bis um sechs Uhr morgens weitergemacht. Über den Sonntag schweige ich besser.

Letztens hatte ich hier ein amüsantes Erlebnis dazu, wie unterschiedliche Kulturen sich gegenseitig wahrnehmen, bzw. was ihnen aneinander als bemerkenswert auffällt: Beim Hausbesuch eines Klienten zwecks Bestandsaufnahme des Mobiliars nahm mich die anwesende Hausfrau kurz beiseite und fragte mich mit grenzenlosem Erstaunen in Gesichtsausdruck und Stimme, ob es denn tatsächlich so sei, dass die Deutschen, wie in den deutschen Fernsehserien zu sehen (hier läuft so einiges aus deutschen Landen im Fernsehen, von dem man sich wünscht, es hätte unsere Sendeanstalten nie verlassen), mit Straßenschuhen fremder Leute Wohnung beträten. Als ich ihr bestätigte, dass dies, mit wetterbedingten Einschränkungen, durchaus der Fall sei, brach für sie eine Welt zusammen: Dass die als sauber und akkurat geltenden Deutschen sich derart unhygienische verhielten, war für diese biedere russische Hausfrau kaum zu glauben.

In Russland wird beim Betreten einer fremden Wohnung grundsätzlich das Schuhwerk gegen meist schon bereitstehen „Gasthausschuhe“ ausgewechselt. In Straßenschuhen eine Wohnung zu betreten, gilt gleichermaßen als Affront und Sauerei und wird nur auf ausdrücklichen Wunsch der Gastgeber gewagt, was bei feierlichen privaten Anlässen, wenn alle festlich gekleidet erscheinen, dazu führt, dass das zur Abendgarderobe passende Schuhwerk als Knäuel im Flur rumliegt, derweil die in Anzug und Abendkleid gewandeten Gäste in optisch oft erstaunlichen Puschen und Plastiklatschen um den festlich gedeckten Tisch sitzen oder versuchen, den durch die Pantoffeln drohenden Fußgelenksbruch beim Tanzen im Wohnzimmer zu vermeiden.

Dass das andersartige Verhalten bei uns von allen in unseren Serien gezeigten Unterschieden zum Leben in Russland offenbar den größten Eindruck hinterlassen hat, zeigt anschaulich, wie sich die Werte verschiedener Kulturen in angeblichen Kleinigkeiten des Alltagslebens ausdrücken, welche dadurch dann eine für Außenstehende nur schwer nachvollziehbare Bedeutung erlangen. Für das gute Mütterchen bedeutete das Gesehene, dass die Deutschen entweder doch nicht so sauber seien wie gedacht, oder dass sie der häuslichen Sphäre anderer gegenüber es an Respekt fehlen lassen.

Ich hab ihr dann versucht zu erklären, dass unsere Straßen und Gehwege weitaus sauberer sind, als üblicherweise in Russland, und dass bei richtigem Sauwetter selbstverständlich auch bei uns die Straßenschuhe draußen bleiben – für sie war trotzdem eine Welt zusammengebrochen.

Eine Fußnote der Sportgeschichte: Wie mir verschiedentlich erzählt wurde, gab es in Novokuzneck die erste Basketballmannschaft der Sowjetunion: Amerikanische Kommunisten, die beim Bau der Stadt halfen, brachten das Spiel mit, gründeten eine Mannschaft und trainierten interessierte Russen, um einen Gegner zu haben. So kam dieses ur-amerikanische Spiel über ein sibirisches Bergarbeiterstädtchen in die Sowjetunion.

Nach den anderthalb Wochen Ausbildung in Novokusnezk bin ich dann nach Kemerovo weitergezogen, wo ich weiter in der Vergabe und Genehmigung von Mikrokrediten gedrillt wurde.

Interessant ist übrigens, dass das alles Industriestädte sind, die erst nach dem Krieg so richtig ausgebaut wurden. Die Stadtzentren sind meist im Stil stalinistischen Pseudoklassizismus gehalten, was aber eigentlich ganz nett aussieht. Diese Bauten sind fast alle von deutschen Kriegsgefangenen errichtet worden und erfreuen sich bei der russischen Bevölkerung des Rufes deutscher Wertarbeit – wer in einem von „den Deutschen“ gebauten Haus wohnt, wird beneidet.

Kemerovo scheint noch viel mehr als Novokuzneck am Reißbrett entworfen: Der alte Stadtkern in „Stalinklassizismus“ ist fast schachbrettartig angelegt, allenthalben mit runden Plätzen, in deren Mitte sich kleine grüne Oasen mit Bänken, Bäumen und Büschen befinden. Außerdem gibt es noch eine eindrucksvolle Uferpromenade entlang des Tom’. Die neueren Stadtteile sind zwar, wie überall in Russland, größtenteils von dem Gemeinheiten spätsovjetischen Architekturschaffens geprägt, doch zeugt ihre Anlage mit Plätzen, Parks und Alleen davon, dass in diesem Falle nicht vergessen wurde, den Bewohnern doch eine gewisse Lebensqualität zuzugestehen, eine Seltenheit. Insgesamt macht die Stadt daher einen wohnlichen und sympathischen Eindruck – für eine provinzielle Industriestadt in Russland geradezu eine bemerkenswerte Ausnahme.

Die Gemeinheiten sind dafür umso zahlreicher um die Stadt herum verteilt: Chemie-, Stahl- und Kohleindustrie erschreckenden Ausmaßes, die regelmäßig für eine Atemluft jenseits der Grenze zur schweren Körperverletzung sorgen. Diese Dreckschleudern sind aber gleichzeitig der Garant dafür, dass die Bewohner in Lohn und Brot stehen und die für russische Kleinstädte charakteristische Verelendung breiter Bevölkerungsschichten anscheinend vermieden werden konnte.

Mein erster Arbeitstag in dieser Stadt begann sehr beeindruckend. Als ich das Büro betrat, saßen dort die lokale Projektleiterin und ein Knabe, der sich kaum auf dem Stuhl halten konnte und der bei meinem Erscheinen freudig ausrief: „Endlich ist er da! Nun können wir ja Essen gehen. Es sollte aber ein Laden sein, wo es Bier gibt!“. Für Uneingeweihte: in Russland gilt Bier als die beste Katerheilung. Der gute Junge hatte noch so viel Restalkohol im Blut, dass er sich kaum gerade halten konnte. Das war Dima, Übersetzer, Officemanager und ein Liebhaber von Krachmusik und ausgedehnten Feiern, der der bisher lustigste aller meiner Bekanntschaften hier werden sollte, mit dem ich recht schnell einen gemeinsamen Nenner fand, der nur im Heute lebt und, wie ich später sah, in einer absoluten Bruchbude haust, die er sich mit einem Gelegenheitsjunkie auf der Flucht von Frau und Kind und einer reichlich mysteriösen Schönen teilt, wobei letztere während meiner Anwesenheit nur selten aufkreuzte und auf der Couch schlief, wenn sie mal nicht bei einem ihrer angeblich zahlreichen Liebhaber unterkam. Mit diesem etwas zweifelhaftem aber äußerst unterhaltsamen Subjekt verbrachte ich den Großteil meiner Freizeit in Kemerovo, was mir so manchen Einblick in Alltagsleben dieses Städtchens bot, von allgemeinen Infos über die Stadt und ihre Bewohner über Besuche netter Kneipen, bis zu durchzechten und zu Gitarrenbegleitung einer Polizistin am Küchentisch durchsungenen Nächten in seinem Freakasyl.

Wie mir Dima und seine Kumpels erzählten, gab es nach dem Krieg in der Sowjetunion ein motorgetriebenes Personenleichtfahrzeug das Kriegsinvaliden zur Verfügung gestellt wurde. In Kemorovo hatte es den Spitznamen „spassibo gitleru“, was so viel heißt wie „Dank Hitler“ oder „Danke Hitler“. Schon ein recht derber Humor hier. Da fällt mir auch ein russischer Witz zu dem Thema ein: Nach dem Krieg sollen die russischen Kinder in der Schule erzählen, wie sie im Krieg beim Kämpfen geholfen haben. Der eine berichtet, er habe den Partisanen Verpflegung in den Wald gebracht, der zweite erzählt, er habe die Partisanen gewarnt, wenn die Deutschen kamen. Walodja brüstet sich, er habe auf dem Schlachtfeld die Munitionskästen zu den MGs geschleppt, worauf der Lehrer ihn als Helden preist und fragt, was die Soldaten ihm gesagt hätten. Darauf Walodja (auf Deutsch): „Gut Waldemar, gut!“

Am Ende meiner Dienstzeit in Kemorovo wurde ich per Dienstauto wieder nach Novosibirsk gebracht, wobei mich die Spargelackerhaftigkeit der Straßen erstaunte. D.h., im Kemerover Gebiet, wo ein etwas autokratischer-patriarchalischer Gouverneur regiert, gab es eigentlich nichts zu meckern, doch schon an der Grenze zum Gebiet Novosibirsk krachten wir ins erste Schlagloch, als Vorankündigung der Dinge, die uns auf den nächsten mehreren hundert Kilometern harren sollten. Die für das sibirische Klima typischen großen Temperaturunterschiede in Sommer und Winter (plus 40 Grad, minus 40 Grad) wirken sich auf den Fahrbahnbelag verheerend aus und erfordern ständige Sanierungsarbeiten – hier materialisiert sich das Verantwortungsgefühl der Gebietsverwaltungen besonders anschaulich. Ein russischer Scherz besagt, Russland leide an zwei Übeln: seinen Idioten und seinen Straßen – und in der Regierung versuche das eine Übel das andere zu bekämpfen. Aus diesem Grunde legen sibirische Prolls ihre Wagen für bessere Straßenlage nicht tiefer, wie bei uns der durchschnittliche Manta- und GT-Fahrer, sondern höher, um unbeschadet über die durchlöcherten Pisten zu brettern.

Zum Thema absurde Geschichten: Bei meiner Ankunft in Novosibirsk erzählte mir der Chauffeur, dass Sibirien und besonders Novosibirsk was die Kriminalität angeht, sehr friedlich sei, die Sibirjaken seien ruhige Menschen. (Sibirjak ist übrigends nicht, wer im Winter nicht friert, sondern wer im Sommer im Pelz nicht schwitzt!) Zwei Tage später wurde in den Lokalnachrichten berichtet, dass fünf Minuten Fußweg von meiner Wohnung zwei Männer mit jeweils sechs Schüssen (sprich: ordentliches Feuerwerk) umgebracht worden waren. Naja, in Ekaterinburg, die letzten Jahre Russlands „Kriminalitätshauptstadt“, soll so etwas alle zwei Tage vorkommen und – laut Aussage der Kollegen – nicht einmal mehr die Nachrichten beschäftigen.

Am vierten Abend in Novosibirsk hatte der scheidende Trainee in eine Bar zum Abschiedsessen geladen, die Office-Managerin hatte in forscher weise (wie bei nicht wenigen Russinnen üblich,) genau zwei Knöpfe ihrer knärtzprall gefüllten Bluse zu viel offen, was richtig unfair war, die Konzentration auf die durchaus wohlschmeckenden Speisen fiel schwer und moralisch niederes Gedankengut überdeckte die Freude am kulinarischen Genuss.

Danach sind wir in den teuersten Club der Stadt (Eintritt 23 DM, Bier 7-15 DM der halbe Liter). Ich musste zum Glück nicht zahlen. Dort dann eine Einrichtung wie in Diskotheken aus schlechten spät-80er-Jahre-öffentlich-rechtlichen-Fernseh-Krimis: Neonlicht und Industriedesign. Dazu saßen am Tresen aufgereiht wie die Hühner auf der Stange zahlreiche reichlich ansehnliche, wenn auch etwas zu ordinär gestylte, gelangweilte „Damen“, die teilweise zum laufenden Stumpftechno Tanzen simulierten. Als ich meinte: „Die machen Gesichter wie auf Arbeit“, kam von unserer Office-Managerin trocken zurück: „Da sind sie auch. Die warten auf Kundschaft.“ Ein fieser Ort!

Ganz anders am nächsten Abend. Ich hatte mir die Adresse des einzigen Indipendentclubs der Stadt besorgt und bin dahin. Die spielende Band (mit dem etwas sperrigen aber gleichzeitig Neugier weckenden Namen „Alltag auf der Leprastation“) erwies sich als eine recht abgefahrene und kurzweilige Mischung aus Bosstones und Kosturica. Hier wurde ich ganz unvorbereitet Zeuge für den fast sprichwörtlichen Hass vieler russischer Provinzialer auf „die Moskauer“; einer der Songs wurde angekündigt mit: „Folgendes Lied ist allen Moskauern gewidmet, die heute Abend zum Glück nicht hier sind!“ Lauter Beifallsjubel. Ähnliches wiederholte sich im Laufe des Abends.

Während des Konzertes lernte ich noch einen Maler kennen, der zum Lebensunterhalt Computeranimationen für Werbeagenturen macht. Mit dem hatte ich dann letztens ein lustiges Erlebnis. Wir saßen abends bei ihm mit mehreren seiner Freunde in gelöster Stimmung, als plötzlich das Telefon klingelte. Aufregung, Diskussionen. Mir wurde erklärt, der Vater des Gastgebers liege irgendwo besoffen in einem Hof und habe per Handy angerufen, um abgeholt zu werden. Wie sich herausstellte, war er auf einer Geburtstagsfeier gewesen, wo man ihn rausgeworfen hatte. Seiner Erzählung zu folge hatte er nur schlafen wollen und sich deshalb bis zur Unterhose ausgezogen, um sich zur Ruhe zu legen. Die Gastgeber hätten darauf überranderweise sehr unentspannt reagiert. Nach Aussagen seiner ebenfalls anwesend gewesenen Frau war der Sachverhalt etwas anders. Vattern (seines Zeichens stolzer Bauarbeiter und entsprechend trinkfreudig) stand plötzlich in Unterhose in der Tür zum Wohnzimmer und rief: “ Ich fick euch alle durch. Wer will der erste sein?“ Daraufhin sei ihm die Tür gewiesen worden.

Da der öffentliche Nahverkehr um diese Uhrzeit schon den Dienst eingestellt hatte, blieben die meisten aus unserer Runde über Nacht und wurden im Halbschlaf Zeuge, wie sich Vater und Sohn noch handgreiflich in die Wolle kriegten und dabei die Küche ramponierten, derweil Muttern hysterisch die Szenerie umkreischte. Recht bizarr das Ganze.

Weniger bizarr als amüsant: In den Lokalnachrichten wurde Anfang März berichtet, ein seltener japanischer Kranich sei aus dem Zoo von Novosibirsk gestohlen worden. Er habe 7000$ gekostet, sei aber eigentlich unbezahlbar, da Japan die Viecher aus Artenschutzgründen nicht mehr herausrücke und die Nachzucht schwierig sei. Man müsse von der Auftragstat einer professionell agierenden Tierhändlermafia ausgehen. Zwei Wochen später dann die Lösung: ein Obdachloser hatte auf einem frühmorgendlichen Streifzug durch den Zoo (die Wachen hatten ihn hereingelassen, weil sie ihn kannten und dachten, er arbeite dort als Reinigungspersonal) Jagdgelüste verspürt, den Vogel gesehen, ihm den Hals umgedreht, die „Beute“ mit zu seinen Kumpels geschleppt, gerupft, die Hälfte des Fleisches gegessen und den Rest für 200 Rubel (14 DM) auf dem Markt als Geflügel verkauft. Seine Rechtfertigung beim Verhör: der Vogel habe eh nur nutzlos rumgestanden und er habe Hunger gehabt und Geld für Sprit gebraucht. Auch ein Argument.

Überhaupt treiben Not, Erfindungsreichtum und Dreistigkeit die Menschen hier immer wieder zu erstaunlichem Tun. Nahe bei irgendeinem Dorf in der Gegend hier haben sie in mehreren Kommandoaktionen fast fünf Kilometer (!) Telefondraht geklaut und als Buntmetall weiterverscherbelt.

Noch ein kleines aber interessantes Detail: Nachdem ich in Moskau und Petersburg relativ wenig Leute kenne, die des Deutschen mächtig sind (außer sie brauchen es beruflich), treffe ich hier in Sibirien, tausende Kilometer von Deutschland entfernt, ständig junge Menschen, die erstaunlich gut Deutsch sprechen und zwar aus Freude an der Sprache. Dass die Qualität der von den deutschen Kriegsgefangenen gebauten Häuser so einen Eindruck auf die junge Generation macht…(dummer Scherz, ich gewöhne mir anscheinend schon den hiesigen Humor zum Thema an).

Okay, das war’s, Gruß an alle,
Freundschaft,
Kai
(Visited 54 times, 1 visits today)